Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Nohr
Vom Netzwerk:
lachten albern zu ihm herüber. Bestimmt bekifft. Herr Merse ärgerte sich und wandte sich wieder um. Er hatte gar nicht gemerkt, wie weit er gelaufen war. Er wanderte zurück, langsam, immer da, wo der Sand fest und nass war. Er kniff die Augen zusammen und sah stur geradeaus.
    Immer lachte irgendwo einer. Na wartet. Ihr werdet auch noch geholt, dachte er finster. Geholt. Bei seinem Hornlehrer hing ein großes Bild eines angeblich bekannten Malers. » Das ist meine Lebensversicherung«, sagte sein Lehrer immer. Er hatte es geerbt. Es zeigte nach Herrn Merses Ansicht Sylt, und zwar genau die Strecke Sand und Meer, die er jetzt entlangwanderte. Vor dem Bild stehend, hatte man links das Meer, rechts den Sand, darüber den Himmel vor sich. Alles in blanden Farben zwischen blaugrau und sandbeige. Im Zentrum des Bildes sah man klein, aber markant eine geschlossene Pferdekutsche. Auf den ersten Blick wirkte sie wie ein schwarzer Kasten. Vermutlich sollte sie ein Wattgefährt darstellen, aber Herr Merse bestand seinem Lehrer gegenüber stets darauf, dass sich die Szene eben nicht am Wattenmeer, sondern genau zwischen Wenningstedt und Westerland abspielte. Für ihn war das Gefährt eine Todeskutsche, was sein Lehrer abwegig fand. Herr Merse stampfte ingrimmig durch den Sand. Und diese Kutsche, dachte er, kommt eines Tages, und zwar für jeden. Und euch, euch holt sie auch, euch bescheuerte, bekiffte, bedröhnte Strandkorblacher. Schwarz kommt sie an und hält nicht einmal an, das geht ganz schnell, eh man sich versieht, wird man geschnappt vom Großen Tod, reingezerrt in die Kutsche und ab durch die Mitte mit Peitschenknallen.
    Herr Merse erinnerte sich an eine Einführungsveranstaltung zu einem Schostakowitsch-Konzert durch einen jungen Musikwissenschaftler, der von einer Art » Schwarzen Minna« erzählt hatte, einem Gefährt der Stalin-Schergen, vor dem alle russischen Künstler und Intellektuellen gezittert hatten. Er hatte berichtet, dass Schostakowitsch wochenlang im Anzug schlief, um bereit zu sein für den Abtransport. Beziehungsweise vor Angst eben nicht schlief. Schostakowitsch hatte auch an Schlafstörungen gelitten. » Und ihr da hinten seid nicht bereit!«, rief er.
    Er erschrak vor seiner eigenen Stimme und stand still. Atmete tief und schaute aufs Meer, auf dem die ersten Sonnenstrahlen hinten eine weite silberne Fläche ausmalten. Bereit oder nicht bereit. Vielleicht war es sogar besser, wenn man nicht bereit war? Wozu brauchte es einen Anzug im Lager? Vor dem Erschießungskommando? Vor seinem inneren Auge blitzten die Brillengläser des müden, abgemagerten Schostakowitsch auf. Herr Merse versuchte, dahinter dessen Augen zu erkennen, aufzunehmen, was sie ihm sagten. Aber er drang mit seinem Blick nicht durch das dicke Glas.
    » Bereit sein ist besser«, hörte er plötzlich Johannes brummen… Johannes erzählte ihm, wie er nach Claras Tod mit dem Zug zu ihrer Beerdigung aufgebrochen war, einen Zuganschluss verschlafen hatte und zu spät kam. Herr Merse wusste aus dem Buch der Tante, dass Brahms erst ankam, als Claras Sarg schon auf den Friedhof getragen wurde. Brahms hatte geweint und geweint und geweint und einen jungen Mann angeschnauzt, er verstehe nichts vom Sterben der einzig Geliebten. Dieser angeschnauzte Mann hätte ich sein können, dachte Herr Merse erschrocken. Danach hatte der alte Johannes sich bereit gemacht für seine Kutsche. Und war bald gestorben. Als Dagmar weg war, dachte Herr Merse, kam die Kutsche ganz nah an mir vorbei. Aber es saß ein Psychiatriepfleger drin. Glück gehabt.
    Vor ihm auf einem kleinen Sandhügel lag ein flach gespülter, hellgrauer Stein. Er hob ihn auf, wog ihn prüfend in der Hand, holte weit aus und schleuderte ihn haarscharf über die Wasseroberfläche. Ditschen hatten sie es früher genannt. Er hatte es geübt als Junge. Er konnte gut ditschen. Der Stein riss siebenmal die Oberfläche auf. Sieben Hüpfer. Sieben Leben. »Mein Gott, wo bin ich«, stöhnte er und sah auf die Armbanduhr. Fast sechs. Die Bäckerei machte erst um sieben auf.
    Herr Merse ging nach Hause und stellte sich unter die Dusche, drehte die Temperatur auf eine angenehme Wärme und blieb lange mit geschlossenen Augen darunter stehen. Er passte auf, dass er den Duschvorhang nicht berührte. Das Rauschen und Pladdern beruhigte ihn. Ich passe auf. Auf mich, beschloss er. Die Gefahr kam von innen. Nicht von außen. Vom Denken, vom zu vielen Denken. » Muss einer denken? Wird er nicht vermisst?«,

Weitere Kostenlose Bücher