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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Nohr
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Schleppte alles hin und her, zog den nicht vorhandenen, schweren roten Samtvorhang auf und zu, während Barbara auf einem Hocker stand, von dem aus sie dirigierte oder sich verbeugte. Wenn er auch auf den Dirigierhocker wollte, wehrte sie ihn ab. Einmal war er hartnäckig gewesen, und es war ihm gelungen, das Dirigentenpodium zu erklimmen. Als er seinen imaginären Dirigentenstab erheben wollte, schubste ihn Barbara voller Wut vom Hocker. Er fiel auf einen eisernen Fußabtreter und blutete heftig aus einer Platzwunde an der Stirn. Barbara war zur Mutter gerannt, zerrte sie herbei und schilderte beredt und besorgt, wie Ingo vor lauter Hampeln hingefallen sei und wie sie noch versucht habe, ihn aufzufangen. Sie half der Mutter, holte Taschentücher, verschmolz mit ihr zu einer siamesischen Helfereinheit, während er brüllend versucht hatte, der Mutter den wahren Sachverhalt zu vermitteln. Aber das half nichts: Er wurde ausgemeckert ( » Kannst du denn nicht aufpassen?«), Barbara wegen ihrer Umsicht gelobt.
    Vom Sportplatz drangen Kinderstimmen in Herrn Merses Zimmer. Aber wenn sie in der Grundschule in der großen Pause Reiterkämpfe aufgeführt hatten, dann war er mit Barbara unschlagbar gewesen, dachte er. Sie hatte ihn als Pferd huckepack auf dem Rücken getragen; er spürte noch den kräftigen Druck ihrer Arme um seine dünnen Jungenbeine, die er vorne um ihren Bauch herum zur Doppelsicherung übereinandergeschlagen hatte. Von Barbaras Rücken warf ihn keiner, er aber zerrte die anderen aus ihren Reitersitzen, indem er unnachgiebig an Ärmeln und Kleidung riss und daran Reiter und Ross im Kreis so lange herumzog, bis sich deren Griffe lockerten und sie hinunterrutschten. Er als Reiter mit Barbara als Streitross unter ihm bildete einen unbesiegbaren siamesischen Antäus des Schulhofs.
    Antäus. Minotaurus. Herr Merse beschloss, am heutigen Tag erst nachmittags Horn zu üben und sogleich an den Strand zu gehen. Er packte einen großen Picknickkorb mit Getränken für die beiden Geschwister, mit Obst, belegten Brötchen und Kaffee für sich. Er nahm zwei Tassen mit für den Fall, dass die Mutter der beiden doch schon wieder da war. Für die Befestigung des Labyrinths eine große leere Plastikwasserflasche. Zum Schluss steckte er die Bücher in den Korb, zweimal Brahms und einmal Storm.
    Von oben auf dem Kliff schaute er auf die Strandszenerie wie auf eine Spielzeugglashalbkugel. Am Deckenrund der Halbkugel überwölbte ein lichter Himmel mit der daran aufgehängten, strahlenden Sonne und ein paar segelnden Möwen große und kleine bunte Menschen, Bollerwagen, Gummitiere, knallig farbige Strandtaschen. Am Boden der Glaskugel brachen sich mittelhohe Wellen auf den ockerfarbenen Strand, die Badeerlaubnis-Wimpel flatterten, eine Gruppe Jugendlicher spielte Beachvolleyball über ein aufgespanntes Netz. Herr Merse sah sich plötzlich als winzige Figur neben der Lok 1423 stehen als Teil des Kugelpanoramas. Ein Kind konnte die Halbkugel umdrehen, dann würde der Sand in Zeitlupe durch die Flüssigkeit nach oben schweben, dazu seine in den Strandkorb gelegten Dinge, ja er selbst und alle anderen samt den Gummitieren und Luftmatratzen und Sonnensegeln. Er sah alles bunt nach oben treiben, und außerhalb des dicken Glases Dagmars riesiges Kindergesicht, das lachte, lachte…
    Herr Merse schlenkerte mit Armen und Beinen und produzierte ein befreiendes Brrrrrrrrrrrrrrr. Raus aus der Glaskugel. Alles abschütteln. Es trieb ihn automatisch nach links zum 5 0 er Feld. In der 1051 saß zu seinem völligen Befremden ein junges Pärchen; die Kinder waren nirgends zu sehen. Herr Merse ging zu dem, was vom Labyrinth geblieben war, und schaute strandab- und -aufwärts, aber er fand die Kinder nicht. Unsicher näherte er sich der 1051 und sprach das Pärchen an. Ob sie wüssten, wo die Kinder seien, die zu diesem Strandkorb gehörten. Der Junge fragte leicht gereizt zurück, was er denn für Kinder meine. Er sähe doch: Jetzt säßen sie hier. Das Mädchen kicherte. Herr Merse stand sprachlos. Er kam sich seltsam verlangsamt vor. Wie umgeben von einer dicken Flüssigkeit. Im Zeitlupendenken wanderten Fragen in ihm um: Konnte es denn sein, dass die Kinder auch abgereist waren? Dass die Mutter sie angerufen und zurückbeordert hatte? Hatte er alles nur geträumt?
    Er zog sich schweigend zurück. Bis plötzlich heftige Empörung in ihn einschoss. Zielstrebig eilte er zum Strandkorbverleih und behauptete, er sei gestern von der Frau, die den

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