Herr Merse bricht auf
Fischbrötchen? Herr Merse wurde hungrig, hatte aber keinen Appetit auf seine Strandstullen. Jetzt einen Kebab! Sollte er Natascha fragen, wo sie sie herhatten? Er verwarf den Gedanken. Bloß nicht stören. Außerdem bestanden Kebabs weitgehend aus Zwiebeln und Knoblauch. Wenn sich Frau Luner, Anemone, nachher neben ihn setzen und er unangenehm riechen würde? Andererseits: Sollte er solch übertriebene Rücksicht nicht langsam abschütteln? Ja. Und er hatte doch Ricola-Bonbons.
Er stand auf und streunte nach vorne links, wie von selbst trug es ihn auf das 50 er Feld zu. Da saßen sie ja nebeneinander im Strandkorb: Joel und seine Mutter! Frau Luner las, Joel blickte in Herrn Merses Richtung. Ob er ihn auf die Entfernung sah? Herr Merse hob den Arm und winkte. Joel winkte zurück, und Herr Merse sah, dass er seine Mutter anstieß, die ihr Buch sinken ließ und auch winkte und lachte. Ihm fiel eine Szene aus dem Film » Der kleine Lord« ein, wo der liebenswürdige Junge peu à peu seinen kauzigen, verbitterten Alec-Guinness-Opa aus dessen harter Schale heraus liebte und ihn dazu bewegte, einem Armen die Schulden zu erlassen, und wie der Junge dann zu dem Opa sagte: » Den hast du aber im Handumdrehen glücklich gemacht!« So fühlte er sich jetzt. Im Handumdrehen glücklich.
Frau Luner stand auf und kam auf ihn zu. Er ging ihr entgegen, strahlend. ( » Wie ein Honigbär!«) Oh, er musste jetzt zusehen, dass er seine Freude auf ein passendes Maß heruntergedimmt bekam. » Da sind Sie ja!«, sagte sie. » Ja«, sagte er. Um nicht zu platzen, fügte er abrupt hinzu: » Ich hab einen Mordsappetit auf einen Kebab. Sie auch? Wollen wir einen holen?« Er erschrak etwas, so mit der Tür ins Haus zu fallen. Mit einer Esszimmertür, mein Gott. Aber sie schien nichts dabei zu finden. Sie waren beim Strandkorb angelangt. Frau Luner fragte Joel, ob er auch einen Kebab wolle. Der Junge schüttelte den Kopf. Oder etwas anderes? Wieder schüttelte Joel den Kopf. » Dann gehen wir beide eben«, entschied Frau Luner, zog ein T-Shirt über ihr flatterndes, ärmelloses Strandkleid, nahm ihr Portemonnaie aus einer geflochtenen Tragetasche und sah Herrn Merse auffordernd an. In ihm schwang das » wir beide« wie ein Glockenton nach und erfüllte ihn mit reinem Glück. » Ja, äh, ich sollte mir vielleicht schnell etwas überziehen«, stieß er hervor. Er trug noch seinen weiß-beige gestreiften Bademantel und kam sich neben dem anemonigen Seidengewand wie ein Klinikpatient vor. Zu seiner Überraschung begleitete sie ihn zu seinem Strandkorb und setzte sich wie selbstverständlich hinein, während er sich neben dem Korb umzog, was Gott sei Dank einfach ging, da er die nasse Badehose ( » Gleich die nassen Sachen ausziehen«) ja schon gewechselt hatte gegen seine Boxershorts. Dagmar hatte ihm neben den grünen Stockentenshorts eine beige mit Teddybären geschenkt, die er sich nicht wegzuwerfen traute. Im Wissen um die Strandkorbverabredung hatte er aber heute eine neutrale, blau-weiß gestreifte ausgewählt, zog sich schnell seine weiße Jeans darüber, ein blaues T-Shirt und stand in den Farben seiner Lok vor ihr.
» Da haben Sie sich aber arg geschrammt«, sagte Frau Luner, die trotz seiner eiligen Bewegungen sein Bein gesehen hatte. » Ja«, sagte er. Es lag Lichtjahre zurück. » Bin an eine Buhne gedrückt worden. Man muss höllisch aufpassen, die Wellen sind manchmal sehr stark, dabei kommen sie harmlos herangerollt. Unverdächtig.« » Unverdächtig!« Frau Luner lachte. » Ja«, fuhr er ermutigt fort, » wie so manches im Leben unverdächtig heranrollt, das einen dann gegen die Wand drückt.« Er hatte so einen dunklen Satz gar nicht aussprechen wollen, doch da war er schon heraus. Frau Luner blickte von der Seite an ihm hoch und sah ihm einen Moment lang frei ins Gesicht. Sie war größer als Dagmar, aber kleiner als Agathe. Herr Merse linste mehr aus dem Augenwinkel zu ihr hinüber, als dass er sie direkt anschaute, weil er befürchtete, sich in ihren Anblick zu verlieren. ( » Stier doch nicht so!«) Sie wirkte nachdenklich. » Stimmt«, sagte sie kurz und nickte.
Hinter dem Kliff ging es eine Weile geradeaus, dann deutete sie auf die Kebabbude neben einem Kiosk. » Konkurrenz für Gosch!«, lachte sie. Herr Merse schlenkerte mit den Armen. Er ging glücklich auf in der Sonne neben ihr. An der Bude ließ er ihr den Vortritt und stellte sich den Kebab genauso zusammen wie sie. Das Gespräch floss leicht dahin, berührte
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