Herr Merse bricht auf
Wenningstedt als Urlaubsort im Vergleich zu anderen Syltorten, ihre Unterkünfte, das Schlafen auf fremden Matratzen. Herr Merse erzählte von Barbara und ihren Fernreisen. » Wie praktisch für Sie, dann können Sie immer die Wohnung nutzen!«, sagte Frau Luner. » Ja. Stimmt. Tut mir wirklich gut. Was tut Ihnen denn gut?« Wie eine unerwartete Fanfare war ihm die Frage aus dem Mund geplatzt. » Oh«, sagte sie erstaunt. » Da muss ich erst mal ein bisschen drüber nachdenken!«
Aber erst mal aßen sie. Sie biss unbefangen in den großen, zusammengeklappten Kebab. Es fiel immer mal etwas hinunter auf den Sand, mal ein Weißkohlschnitzel, mal ein Tomaten- oder eine Zwiebelstückchen. Sie verscharrte es einfach mit ihren bordeauxrot lackierten Zehen. Herr Merse sah, dass der Lack an manchen Stellen schon etwas abgeblättert war. Sie hatte schöne schlanke Zehen, der mittlere überragte alle und hatte am wenigsten Lack. Herr Merse gab sich seinerseits Mühe, nichts aus dem Mund zu verlieren, aber wenn es passierte, verscharrte er es nicht, um keine Aufmerksamkeit auf seine hornigen Zehen zu ziehen. Er beschloss, sich einen Bimsstein zu kaufen. Ihm fiel seine Verhornung neben ihren glatten Füßen erstmals auf. Das wäre jetzt ein gefundenes Fressen für Dagmar. ( » Der Hornist mit der Hornhaut.«) Er verbuddelte seine Zehen im Sand.
Nach dem Essen kamen seine Süßigkeiten zu der Tasse Kaffee bei Frau Luner gut an. » Wie nett, Sie haben ja zwei Tassen mitgebracht!«, bemerkte sie. Herr Merse wurde rot, sagte aber tapfer: » Wir waren doch verabredet.« Und: » Bei den Süßigkeiten hatte ich eigentlich auch an die Kinder gedacht.« Er hatte es nicht so gemeint, aber es klang wie ein Stichwort: die Kinder. Frau Luner bedankte sich nun ausgiebig bei ihm und begann zu erklären, warum sie weggefahren war. Es klang fast wie eine Rechtfertigung, dachte Herr Merse. Vor wem rechtfertigt sie sich? Doch nicht vor mir? Dann wäre ich ja wichtig für sie! Wieder durchströmte ihn ein Glücksgefühl. Er lehnte sich wohlig zurück, aber setzte sich gleich wieder aufrecht hin. Er musste aufmerksam sein! Durfte von dem, was sie erzählte, auf keinen Fall etwas verpassen. Jedes Wort musste sich in seine Seele wie in Wachs einprägen!
Er vertiefte sich in ihre Erzählung: » … dass er die Insolvenz nicht abwenden kann. Der Laden ist sein Lebenswerk, wissen Sie? Eine Institution. Jeder kennt ihn. Noten, Musikalien, Musikbücher. Er besorgt alle noch so ausgefallenen Noten!« » Ach, Gottschalk und Reese?«, warf Herr Merse ein und korrigierte blitzschnell sein Bild vom kleinen Buchladen in einer Seitenstraße zu dem großen bekannten Musikalienhandel. Frau Luner schaute ihn verblüfft an. » Ja. Kennen Sie den Laden?« » Ja«, sagte Herr Merse. » Ich bin doch Hornist! Habe gelegentlich in Berlin gespielt. Man kennt den Laden einfach.« ( » Man. Der große Musiker von Welt kennt den Laden.«) Frau Luner freute sich. » Dann haben wir uns da vielleicht schon mal gesehen? Ich verkaufe da schon lange, bestimmt zehn Jahre lang. Seit ich…« Sie stockte und schien mit einer Entscheidung zu ringen, » seit ich… Wollen Sie wirklich so viel hören?« » Ja«, sagte Herr Merse mit Nachdruck. Sie schwieg. » Also… seit meiner Scheidung. Ich hab auch mal…« Sie stockte wieder. Herr Merse fragte beharrlich nach (seine beste Eigenschaft!) und brachte sie schließlich durch ermunternde Resonanz in einen Erzählfluss hinein.
» Ich hab auch mal kurz Musik studiert«, begann Frau Luner. » Kirchenmusik. Aber musste das bald abbrechen. Ich hatte einfach immer zu viel Lampenfieber. Und außerdem war das alles nur eine Notlösung. Ach, alles begann mit dem Unfall…« » Ja?«, fragte Herr Merse. » Ein Unfall?« Sie schwieg eine Weile und sprach dann mit leiser Stimme zum Meer hin. Die Kaffeetasse stand vor ihr auf dem ausgeklappten Strandkorbtischchen. Herr Merse fand ihre Sprechweise verweht. Manchmal fragend ausgerichtet, dann kräftig wie ein kleiner Windstoß. Er verglich sie innerlich mit allen Stimmen, die er kannte. Sie ist ganz anders, dachte er. Er lehnte den Kopf an die Strandkorbwand und ließ sich von ihrer Stimme wie von einer leichten Brise streicheln… » …Querschnittslähmung.« Er fuhr hoch und realisierte, dass das die Folge des Autounfalls gewesen sein musste, den Frau Luner beschrieben hatte. Durch die Querschnittslähmung sei ihr damaliger Freund aus der Lebensbahn geworfen worden. In ein kirchliches Stift für
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