Herr Merse bricht auf
seine Uferwelt zurückgezogen. Schüchtern war er von da aus immer wieder auf sie zugekommen. Nicht besitzergreifend wie Herr Hagauer. Und schließlich hatte sie Nein zu dem Kind gesagt…
Herr Merse zuckte davor zurück. Zurück zu Agathe. Die war ihm vom Orakel als Schutzheilige zugedacht. Mit ihren beiden a im Namen, der mit lichtem Auftakt und dunklem weiblichen Ausklang einen melodischen Teppich bildete, in den man sich gern hineinlegte. Während »Dagmar« mehr nach »duck-mahr« klang. Albtraumente. Er stöhnte.
Ulrich und Johannes reichten einfach nicht. Er brauchte weiblichen Schutz. Agathe: Hieß so nicht auch die Göttinger Freundin von Johannes? Die erste nach Clara? Herr Merse ging zu den Brahms-Büchern und schlug nach. Da, er fand eine Fotografie von ihr. Agathe Seibold. Ein nettes, liebes, braves Gesicht. Ja, Johannes war verliebt, schrieb die Tante, immerzu waren sie zusammen, sie sang seine Lieder, sie machten Ausflüge, die beiden blieben hinter den anderen zurück, Clara wurde eifersüchtig… Dann drängte man ihn, sich zu » erklären«, wie es damals hieß. Was hatte das Liebesgefühl mit Erklärungen zu tun? Der Ausdruck ärgerte ihn. Johannes sollte sich erklären, seine Agathe nicht kompromittieren. Es sprang förmlich aus den Zeilen heraus, wie richtig die Tante das fand.
» Warum hast du dich nicht erklärt, Johannes?«, fragte er, den Ausdruck übernehmend, weil ihm kein anderer einfiel. » Hab ich ja«, brummte Johannes, » nur anders.« Ingo fiel das Stück ein, in dem Brahms in Noten die Buchstaben a-h-g-a-e untergebracht hatte. Die Antwort reichte ihm nicht. » Warum nicht offen? Direkt? Mochtest du sie nicht genug?« » Doch.« » Na also, was denn?« » Ach, viele Gründe. Fühlte mich unwohl mit all den Akademikern da. Ihr Vater Arzt. Wie hätte ich zum Beispiel um ihre Hand anhalten sollen? Mit was für Worten? Wusste gar nicht, wie man das macht. War auch noch nicht berühmt. War unsicher, was je mit mir werden würde. Ob ich genug Geld verdienen würde. Und dann: Ob ich mit Familie noch Luft holen könnte. Komm nach Hause, Kopf voller Ideen, will ans Klavier, muss erst die Frau küssen, das Kind herzen, die Möbel gut finden, das Essen probieren, was erzählen, was anhören– dabei tropft es einem doch aus dem Kopf heraus, was man von draußen mitgebracht hat.« Herr Merse schwieg überrascht. Dass auch im inneren Gehäuse eines Komponisten wie Johannes Undichtigkeiten auftreten konnten! Er schüttelte den Kopf.
Missmutig betrachtete er das Buch. Er war unzufrieden mit sich, Johannes und dem Orakel. War es nun gut, war es nicht gut, immer eine Selbstmordpille dabeizuhaben? Er hatte keine. Außer wenn er alle Tabletten auf einmal nähme. Wollte ihm der Text das nahelegen? Sollte er aus einem Leben ohne Sohn und Frau heraustreten? Er grübelte. Die Kapsel ist Agathes Schutz. Die ihr die Ganzheit zurückbringt. Auch er kannte eine Trennung zwischen Denk-Ingo und Körper-Ingo. Ihm war sein Körper aber eher feind als fremd. Wenn er sich zum Beispiel auf einem Foto sah. So, wie er sich von innen her anfühlte, das fand er im Bild nicht wieder. Und von außen betrachtet fand er sich ungelenk. Steif. Dünn. Irgendwie unmännlich. Beim Joggen oder in Glücksmomenten mit Dagmar fühlte er sich männlich; und von innen wie außen gut fand er sich nur mit seinem vollen Hornklang. Aber sah er dann wirklich gut aus? » Ohne mein Horn bin ich ein tonloses Gestell«, murmelte er.
Aber doch besser Horn als Hauer. Lieber feind als fremd. Siehe Agathe. Sie war schön. Konnte, wer schön ist, sich feind sein? Nein. Aber offenbar fremd. Er regte sich auf. Warum verliebte sich Agathe nicht einfach in ihr Spiegelbild, verdammt noch mal? Warum wandte sie sich nicht einfach ab von diesem Hagauer? Er, Ingo Merse, würde sie mögen. Er starrte in den Spiegel. Immer mehr verwandelte sich Agathe in Frau Luner. Sie stand vor dem Spiegel, betrachtete sich und ihre Narbe, und er stand daneben, aber so weit vom Spiegel entfernt, dass man nur sie sah. Er sah im Spiegel auf ihr Gesicht und den zarten, ein bisschen nervösen Hals. Sie war schlanker als Agathe, feingliedriger. Wie eine Anemone war sie. Agathe mehr wie eine Dahlie. Anemone. Dahlie. Er sagte die Worte laut vor sich hin. Es war tröstlich. Ein schöner Name. Anemone Luner. Er würde sie gern so anreden. Würde. Hätte. Ha.
Herr Merse schaute durch das innere Spiegelbild aus dem Fenster auf den Sportplatz. Ein Junge kickte einem Torwart
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