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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Nohr
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Behinderte hinein. Das Wort » Stift« tauchte nun öfter auf, obwohl Herr Merse fand, dass es in seiner spitzen Kürze gar nicht zu Frau Luner passte. Sie sei ihm ins Stift gefolgt, aus Schuldgefühlen. Auch dies schien für Herrn Merse nicht zu passen. Sie hatte doch gar keine Schuld gehabt!, dachte er. Die dicke Frau aus der Klinik fiel ihm ein, er verscheuchte das Bild und schüttelte unwillkürlich den Kopf. » Doch, doch!«, sagte Frau Luner. Herr Merse wusste nicht genau, worauf es sich bezog. Er erschloss, dass sie von einer Kirchenmusikschule im Stift erzählt hatte. Da habe sie im Chor mitgesungen, weil ihr Freund sich verbittert » in den PC verkroch«. Der Chorleiter habe sie zum Studium ermutigt. » Er fand, ich hätte eine gute Stimme.«
    Eine Möwe schrie. Frau Luner blickte hoch, während in Herrn Merse die Alarmglocken angingen: Chorleiter. Dirigent. Ermutigt. Ha. Frau Luner sprach inzwischen von ihren Ängsten, Orgel vorspielen oder einen Chor leiten zu müssen. Herr Merse schaute in den blauen Himmel und sah sie den Bässen zu zaghafte Einsätze geben. Ja, diese dirigentenhafte Bestimmtheit– das war nichts für sie. Mit ihrer Verwehtheit. Der Name Karl fiel. » Wer war Karl?«, fragte er etwas plump. Gott, er musste besser zuhören! Frau Luner erklärte noch einmal geduldig, Karl sei ein Diakon, den sie nach einem Chorkonzert kennengelernt hatte, und Karl wurde bald ihr Mann. Aha. Also kein Banker. Kein moderner Geldmann. Karl habe im Stift einen kleinen Buchladen geführt, und sie habe dann nach dem Studienabbruch auch dort gearbeitet. Herr Merse verlor sich in ein Bild von frommen Postkarten und selbst gerollten Bienenwachskerzen, die ihr von alten Leuten im Rollstuhl zum Bezahlen hingehalten wurden. Rollstuhl? Dann hatte sie ja für Karl den Behinderten verlassen! Er warf ein: » Und Ihr Freund? Der… der mit dem Unfall?« » War doch von den Eltern in die Schweiz gebracht worden!« Herr Merse entschuldigte sich und fragte schnell nach Karl.
    Karl, Stift, was für Wörter, dachte er. Kurz. Hart. Peng. Das passte doch nicht zu ihr. » Ich hab ihm vorgeschlagen, ob er nicht auch CD s und Noten in sein Sortiment aufnehmen wolle«, hörte er Frau Luner. » Das war der Beginn unserer Beziehung.« Sie trank einen Schluck Kaffee.
    Herr Merse schaute aufs Meer. Wieder schrie eine Möwe. Eine andere antwortete. Wie beginnt eine Beziehung? Er musste unbedingt mit Johannes darüber sprechen… » Er war zu mir fürsorglich wie ein guter Elefant«, hörte er sie sagen. Sie lächelte in der Erinnerung. Herr Merse nickte. Er sah sie innerlich auf einem Elefantenrüssel wie auf einer Kinderschaukel sitzen; der Elefant trug sie vorsichtig durchs Grüne, an Büschen und Bäumen vorbei. Wenn sie anhalten wollte, spürte der Elefant den leichten Druck ihrer Hand durch seine dicke Haut und blieb stehen.
    Wie von fern hörte er Frau Luner von ihrer Heirat mit Karl erzählen, von der Wohnung im Stift– immer noch » Stift«, dachte er missmutig–, von Natascha, und wie Karl vor Stolz geplatzt sei, die Kleine ausgefahren, ihr vorgelesen, mit ihr gespielt habe. Herr Merse schluckte und fixierte angestrengt eine grüne Glasscherbe im Sand. Die muss ich wegnehmen, damit sie sich nicht schneidet, dachte er. » Ich war bei ihm wie abgeschrieben«, sagte Frau Luner mit Joels flacher Stimme. Herr Merse nickte wieder. Seine Kehle war wie zugeschnürt. So ging es: Karl schrieb Frau Luner ab, Dagmar ihn. Er stand schnell auf und steckte die Scherbe in die Tasche.
    Frau Luner schien es gar nicht zu bemerken. Sie erzählte, wie sie mit achtundzwanzig, Natascha sei schon im Stiftskindergarten gewesen, einen jüngeren Musikstudenten kennengelernt habe, der als ungewöhnlich guter Orgelspieler in der Kirche an der großen Orgel habe üben dürfen. Oft habe sie im dämmerigen Kirchenschiff gesessen und ihm zugehört. » Das beruhigte mich.« Herr Merse nickte wieder. Ja, Musik beruhigte. Wie gern würde er ihr einmal in einem großen, leeren, halbdunklen Raum vorspielen! Er seufzte.
    » …geheimes Liebespaar geworden. Karl merkte nichts. Er wollte nichts merken«, sagte sie. Was? Geheimes Liebespaar. Herr Merse schluckte wieder. Wollte nichts merken. Aha. Wollte. So sah sie es. Dann sei sie schwanger geworden mit Joel. Der Student habe sich an eine holländische Hochschule abgesetzt. » Er schrieb noch ein paarmal und blieb dann verschwunden.«
    Sie schwiegen beide einen Moment und schauten aufs Meer. » Und dann?«, setzte

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