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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Nohr
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unschuldig«. Inargenti. Oder so silbern. »Vaga Luner L’innocenta« gefiel ihm besser. Frei übersetzt: Unschuldige vage Frau Luner. Ja. Er leerte das gesamte Glas. Es gefiel ihm! Oder Unschuldige weiche Frau Luner. Unschuldige weiche Annemarie. Vaga Vagina. Weiche Vagina Anemona. Maria. Maria auf dem Silbermond, unschuldige Mutter aller weichen Vaginen. Argenti. Maria auf dem Silbersichelmond. Mutter aller…
    Herr Merse stand auf. Er wankte. Lachte. » Die Flasche ist leer, mein Herz ist voll. Ich weine nicht mehr. Ich find sie so toll. Amen. Da staunst du, Dagmar.«
    * * *
    Er vermied es, beim Heimkommen Licht zu machen. Geduscht wurde auch nicht, schon wegen Neudeckers. In den Spiegel schauen: auf keinen Fall. Zähne putzen, ja. Tablette nehmen? Sicherheitshalber. Dass er Schlaf bekam. Dass er morgen für Joel und vielleicht auch Anemone spielen konnte. Ab ins Bett.
    Auf dem Nachttisch blinkte sein Handy. Auffordernd. Wer um alles in der Welt konnte das sein? Herr Merse fingerte an den Tasten herum. Barbara. Der Anruf kam von Barbara. Sie hatte auf die Mailbox gesprochen. Das konnte nichts Gutes verheißen. Augenblicklich nüchtern, drückte er auf Wiedergabe und hörte Barbaras Stimme: » Hallo, Ingo. Wir sind verfrüht zurückgekommen. Sind schon ein paar Tage in Hamburg. Oskar hatte in Thailand einen leichten Schlaganfall. Aber alles jetzt ok. Die Ärzte sagen, er muss sich schonen, und er kriegt so ein Blutverdünnungsmittel. Wir wollen nach Sylt kommen. Nix mehr mit weiten Reisen. (Herr Merse hörte, wie gepresst ihre Stimme in diesem Satz klang.) Ich weiß, du bist in der Wohnung und hast dich drauf eingestellt, da Ferien zu machen, aber Oskar geht jetzt vor. Bin sicher, du hast dafür Verständnis. Du kannst notfalls ein, zwei Nächte in der Kammer schlafen, bis wir für dich ein Quartier gefunden haben, falls du unter den Umständen überhaupt bleiben willst. Oskar braucht wirklich Ruhe, also mit Hornüben geht es sowieso gar nicht… ach, ruf doch mal zurück. Wir kommen übermorgen.«
    Er setzte sich aufs Bett. Sein Kopf dröhnte. Wie sollte er in der Hochsaison auf Sylt ein Zimmer finden? Bei bestem Wetter und stabiler Hochdrucklage? Barbara wusste es so gut wie er: Das war aussichtslos.
    Er stand wie im Schock. Mein Gott. Ja. Der arme Oskar. Aber er? Ingo? Er begann auf und ab zu tigern und stieß mit dem Kopf an den Hängeschrank. Schmerz spürte er nicht, aber plötzlich Wut: Warum konnte sich Oskar nicht zu Hause erholen, verdammt noch mal? Wozu hatten sie das schöne Haus in Volksdorf denn? Übermorgen! Jetzt, wo er, Ingo Merse, erstmals auf einen neuen Weg gelangt war! Wo er eine Frau kennengelernt hatte. » Das wolltest du doch immer, Barbara. ’ne neue Frau für mich. Jetzt ist sie da. Und jetzt kommst du, und ich kann nicht mehr da sein!« Herr Merse stampfte irr in der Wohnung umher und redete laut. » Da kommt sie. Die vergessene Schwester. Oskar geht natürlich vor. Es geht immer alles andere vor. Sie geht vor. Immer voran. Der kleine Ingo hinterher. Immer immer immer immer immer.« Er stampfte auf jeder Vorsilbe mit dem Fuß auf. » Den kleinen Ingo kann man hierhin schubsen und dahin stecken, ja, in die Kammer mit ihm. Abstellkammer. Auf ’ner Luftmatratze ins Meer schieben. Und sich dann hinstellen und jammern: ›Ach, dieser Ingo. Macht einem nur Sorgen.‹ Ja. Ja! Den kann man abtreiben, backpfeifen, abschieben. Er passt nicht rein– dann muss er raus. Raus raus raus!« Herr Merse brüllte und wirbelte mit den Armen durch die Luft. Erstarrte, als er ein Geräusch hörte. Ein Kind weinte, eines von denen aus der Wohnung unter ihm. O Gott, er hatte diesem Kind Angst eingejagt. Das Kind weinte, wie Joel weinte. Nein, Joel weinte still.
    Herr Merse setzte sich hin. Jetzt klaren Kopf bewahren. Ruhe. Ruhe. Ruhe. Er stand wieder auf und ging auf Zehenspitzen durch das Zimmer. Er würde morgen ins Touristencenter gehen und nach einer Wohnung fragen. Für eine Notlage. Oder auch nur nach einem Zimmer. Vielleicht nahe der Pension von Luners! Der Gedanke hellte ihn etwas auf. Im Lerchenweg. Gleich nebenan. Oder in der Pension Strandmöwe selbst! Unwahrscheinlich. Und wenn er nichts fände? Er guckte in die Kammer. Da passte neben das Regal eine Luftmatratze hinein. Ja. Gerade so. Er war aber eins neunzig und hatte keine Luftmatratze. Er sah sich leise und rücksichtsvoll morgens aus der Gerümpelkammer durch das Apartment schleichen: » Ich jogge denn mal. Soll ich Brötchen mitbringen?«

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