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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Nohr
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Hause. Joel hat Angst, und Natascha ist wohl noch nicht da. Bleiben Sie ruhig sitzen, Sie müssen mich nicht begleiten«, sagte Frau Luner. Herr Merse aber raffte alles schnell zusammen. Schweigend gingen sie über den Sand, das Kliff hoch, durch den Ort zur Lerchenstraße. Herr Merse nutzte die Zeit für Fragen. » Hat er oft Angst?« » Ja.« » Wovor denn?« » Meist träumt er schlecht. Oder er sieht etwas im Dunkeln. Fremde Gesichter. Er glaubt auch, aus dem Fernseher kommen nachts Ungeheuer. Ich hänge eine Decke drüber, aber das hilft nur manchmal.« Herr Merse dachte mit Schrecken an den Minotaurus. » Hätte ich das lieber nicht mit ihm spielen sollen? Diese Minotaurusgeschichte?« » Nein, es passiert immer. Es ist ganz unabhängig davon.« Frau Luner hatte jetzt eine ebenso tonlose, müde Stimme, wie Herr Merse sie von Joel kannte. Sie verabschiedete sich schnell von ihm, mit einem huschenden Lächeln. » Vielen Dank für das Strandkorbgespräch. Und gute Nacht! Reden Sie doch mit Dagmar. Wenn Sie alles wissen, wird es leichter.«
    Herr Merse stöhnte innerlich. Verabschiedete sie sich jetzt für immer und gab ihm noch einen guten Rat mit auf den Lebensweg? Den er allein weiterwandern sollte?! Gepresst fragte er: » Wann machen wir denn das mit dem Horn?« Frau Luner war schon die Stufen zur Haustür hochgegangen, aber drehte sich noch einmal um. » Ach ja. So bald wie möglich! Morgen?« Herrn Merse fiel ein Stein vom Herzen. » Ja, gern, also morgen! Wann?« » Ach, wir sehen uns ja bestimmt am Strand.« Sie winkte und ging hinein.
    Die Tür fiel zu.
    Wir sehen uns ja. Morgen. Morgen morgen morgen. Herr Merse machte ein paar Sprünge. Er hüpfte auf einem Bein, auf dem anderen, auf beiden Beinen. Er drehte sich. Noch nicht nach Haus jetzt. Morgen morgen morgen morgen morgen statt fünfmal never never never never never. Sollte Shakespeares alter Lear mit seinem »Never« doch über die Heide rasen! Er aber tanzte jetzt mit den fünf »Morgen«! In den Morgen! Halt, jetzt erst mal schnell weg, dass man ihn nicht sah, wohin, nicht nach Hause natürlich, also wieder an den Strand. » Du alte Lok. Heute viel erlebt, was?« Er tätschelte die Rundung des Strandkorbs. Setzte sich da hin, wo Frau Luner gesessen hatte. Strich vorher zärtlich mit der Hand über ihre Sitzecke. Dann riss es ihn wieder auf die Beine, er lief ans Meer. Dunkel lag es vor ihm. Rollte gemächlich heran, brandete, rauschte aus. Es war fast Nacht und so dunkel, wie es auf Sylt im Juli werden kann.
    » Du bist schwarz wie Tinte«, rief er ins Meer hinein, » mit deinen Fischen und Seesternen und Feuerquallen und Blauquallen und deinem Tang und deinem Mist und allem Dreck der Schiffe, aber in mir ist es hell, jawohl, hell! Himmelsfeier! Fast hätte ich alles verkackt!«, schrie er aus Leibeskräften und erschrak unmittelbar. Hörte er ein Echo? Nein, es war eine andere Stimme, sie kam von fern. Das Meer hatte das » verkackt« gleichmütig geschluckt. Herr Merse vergewisserte sich, dass er allein war. Ganz schwach blakte weit hinten ein Lichtlein. Jemand hatte wohl eine Petroleumlampe an seinen Strandkorb gehängt; man hörte je nach Wind Stimmen. In der Nähe sah er keinen. Er ging alle Strandkörbe der Umgebung ab. Alle leer und vergittert. Einige mit Vorhängeschlössern. Ja, er war allein.
    Er wandte sich wieder ans Meer. » Fast hätte ich alles verkackt«, sagte er ruhiger. » Aber Joel, der Goldjunge, hat mich gerettet. Will das Horn sehen. Natürlich. Das ist was für Jungen…« Herr Merse erinnerte sich an seine erste Begegnung mit dem Horn. In einer Aufführung der Oper » Siegfried« als Kurzversion für Kinder hatte er es erstmals bewusst wahrgenommen. Er war damals nicht viel älter gewesen als Joel. Das Aufregendste an der Oper war natürlich der Lindwurm gewesen. Aus seinem geräumigen grünen Papierinneren hatte blutrot ein riesiges Herz geschimmert. Man sah es die ganze Zeit pulsieren. Dann kam Siegfried dahergeschritten, ein junger, schöner Tenor mit dem Waldhorn unterm Arm, während gut sichtbar neben der Bühne ein bärtiger großer Instrumentalist das berühmte Hornmotiv schmetterte. Über diese Töne hatte das Lindwurmherz kurz ausgesetzt. Ingo war zutiefst beeindruckt gewesen von dieser Wirkung. Als Siegfried den tödlichen Stoß gegen den Lindwurm richtete, spielte wieder der seitliche Instrumentalist das Hornmotiv. Das Herz stoppte. Andächtig schaute Klein Ingo auf das tödliche Horn. Als die anderen Kinder

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