Herr Merse bricht auf
ein Spruch? Ihm fiel der Merseburger Zauberspruch ein. Da ging es nach seiner Erinnerung um Heilung für Wotans Pferd. Das gab ja noch einen Sinn! Ein heilender Spruch. Der Stierspruch war dagegen nichts als alberne Angabe! Und der sollte ihn befreien aus Reihenendhaus und Wurstbude, aus Barbara-Apartment und Dagmar- Gedackel ? Lächerlich. Würde er damit etwa als Prachthornist in der Welt stehen, Bäume pflanzen, Söhne zeugen? Herr Merse stöhnte, warf sich aufs Bett zurück und weinte heftig und lange.
Danach kämpfte er mit Selbstverachtung, die kalt wie Eis in ihm hochkroch. Schon wieder hatte er geweint. Flenner, der er war. Allerdings– Anemone hatte es nicht schlimm gefunden. Er hob den Kopf. Nein, Annemarie. Er wollte sie bei ihrem richtigen Namen nennen. Er schnäuzte sich. Frau Luner war im Traum gar nicht vorgekommen, fiel ihm plötzlich auf. Tatsächlich, dieser Traum hatte mit ihr nichts zu tun, der Stier nicht, der Spruch nicht. Er runzelte die Stirn. » Jetzt mal denken, Merse, denken«, sagte er laut zu sich selbst. Er starrte vor sich hin. Der Traum war ein Vexierbild, erkannte er. Und er hatte erst auf die falsche Seite gestarrt. Ja. Natürlich. Wie so häufig. Der Traum zeigte ihm, wie er nicht war. Wie er nie sein würde. Wie er aber auch nie sein wollte!
Herr Merse atmete tief aus. Auch Joel würde nie so sein wollen. Er sah den Jungen versunken einen Stier auf eine der magischen Spieltafeln kritzeln, auf denen die Zeichen durch Herausziehen und Hineinschieben wieder gelöscht werden. Er malte einen großen Stier, zog raus, schob wieder rein, malte dann einen kleinen Kritzelstier, der an einer Blume schnupperte.
Ajax ist unglücklich, erkannte Herr Merse plötzlich. Sein Intimstes prallt an einer Glasscheibe ab. Frau Luner hatte nichts mit Glas zu tun. Außer einem Weinglas. Er sah durch das Weinglas auf ihr Gesicht dahinter und hörte wieder den schwingenden Celesta-Klang, der entstanden war, als sie auf das himmlische Fest anstießen. Er gab ihm Mut.
Ajax ist einsam, dachte er weiter. Er kam jetzt gut voran mit der Traumdeutung. Obwohl er riesengroß ist, beachtet ihn keiner. Pubertärer Trotzanfall zwischen Wohn- und Esszimmer. Verlorenes Schaf– eingeklemmter Stier. » Ajax, was würde dir guttun?«, fragte Herr Merse laut und ratlos. » Der Stier in seinem dunklen Drang… braucht eine Wiese«, hörte er plötzlich Ulrichs österreichischen Dialekt. Er sprach mit leiser Ironie, aber ganz zugewandt. Herr Merse schaute sich unwillkürlich um. Hörte er Stimmen? Egal. Ulrich hatte recht. Eine Wiese würde Ajax guttun. Er sah wieder Joels Kritzelzeichnung mit Stier und Blume vor sich. Natürlich. Und auf der Wiese eine liebenswürdige, lebendige Kuh, die er beglücken konnte. Was doch natürlicher wäre als SB vor einem Vitrinenschrank, mein Gott. Herr Merse schmunzelte vor sich hin. Viel schöner! Keine Kunstkuh mit Echtfrau drinnen; Schluss damit! Eine gut duftende Echtkuh. Keine schwarz-weiße. Eine braune. Die auf ihn wartete! Ihn wollte! Inmitten von Kamille, Wiesenkerbel, Beifuß und Mohn. Ja.
Er nickte. Im Hintergrund meinte er Ulrich ebenfalls nicken zu sehen. Sie waren sich einig. Er sah sich wieder mit Annemarie als Paar auf dem überwucherten Weg, diesmal neben einer Wiese, auf der Ajax graste. Jetzt blieben sie stehen und umarmten sich. Das wäre schon Erfüllung, dachte er wehmütig. Das wäre das Glück. Und alles andere samt Samen und noch mehr Körper wäre eine Zugabe des Lebens. Er weinte. Der auftrumpfende Stier– der kam aus der Vergangenheit. Und zeigte ihm nur, wie er mit den Mattscheiben bestimmter Frauen umzugehen hatte. Bestimmter abweisender höhnischer Frauen. Ja, und darum war er ausgerechnet jetzt in ihm aufgetaucht. Jetzt, wo Barbara kam. Das war es.
Herr Merse war dankbar. Er mochte Ajax. Warmherzige Frauen würde er nämlich beschützen. Annemarie Luner würde Ajax über Stock und Stein helfen, sie in ihrer schwierigen Lebenslage auf neue Wege tragen. Herr Merse lächelte erlöst. Er sah jetzt Ajax vor Frau Luner unten am Strand stehen. Er knickte vorne mit den Vorderbeinen ein und ging in die Knie, eine ritterliche und zugleich einladende Geste. Zeus und Europa? Herr Merse schüttelte den Kopf. Zeus wollte nur Sex. Er sah, wie Frau Luner erfreut auf Ajax’ Rücken kletterte, der Stier sich behutsam erhob, ruhig durch den Sand trottete und schließlich zum Meer abbog wie die Kutsche auf dem Bild seines Hornlehrers. Frau Luner war eindeutig auf Herrn
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