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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Nohr
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hinterher den Lindwurm berühren wollten, pochte das Herz auf einmal wieder. Alle stoben verschreckt zurück. Der Vater hatte gelacht: » Die Bühnenarbeiter wollen nicht, dass ihr den schönen Drachen kaputt tatscht, und darum haben sie das Herz wieder angestellt.« Als ob man ein Herz an- und ausstellen könnte. Ingo wusste es besser. So hatte es mit Ingo und dem Horn begonnen.
    Herr Merse ging am Wasser auf und ab und summte leise das Siegfried-Motiv. Ta täm ta da da da da däm da da taaaa. Ja. Das würde er Joel morgen vorspielen.
    Langsam ging er zum Strandkorb zurück. Er hatte sich aufgelöst. Wie plötzlich das geschehen war! War das Platzen? Das hatte die Musiktherapeutin doch damals gewollt! Dann war es doch gut! Er dachte an Johannes und auch an Ulrich. Denen war so etwas bestimmt nie passiert. Dem rücksichtsvollen, feinfühligen Johannes und dem souveränen, überlegenen Ulrich. Mit Johannes wollte er diese Erfahrung auf keinen Fall teilen. Für Johannes war Auflösung was für Töne. Worte ragten fremd in Gefühle hinein. Wieder zogen die Bilder seines Zusammenbruchs an ihm vorbei. Frau Luner hatte es anscheinend gar nicht so schlimm gefunden. Ein Gespräch wir sind. Und schließlich hatte das Horn ihn gerettet. Weil Joel es sehen wollte. Weil er, Ingo Merse, was darstellte als Hornist. Das Horn gab ihm Festigkeit. Das ahnte der kluge Joel, darum wollte er es sehen. Mit dem Horn könnte er laut alles wegtröten, was ihm seinen Innenraum verstopfte.
    Herr Merse setzte sich und wickelte sich in die Decke. In einem Traum aus der Anfangszeit mit Dagmar hatten er und ein anderer Hornist nebeneinander gestanden, jeder bereit zum Einsatz. Sie setzten die Instrumente an, das Stück begann mit einer kleinen Terz. Herr Merse hatte den tieferen Ton zu spielen. Der Einsatz kam, der andere spielte, aber aus Herrn Merses Horn kam kein Ton. In Panik versuchte er es erneut. Der Dirigent blickte finster. Und wieder: nichts kam. Er stand wie ein Zinnsoldat mit einem Zinnhorn. Erstarrt. Der andere Hornist stieß ihn an. Da kam ein Mann, nahm Herrn Merses Horn auseinander und schaute hinein. Es war von oben bis unten verstopft mit Wolle und Werg. Herr Merse zog das Zeug heraus in endlosen Schnüren, zog und zog, es nahm kein Ende. Noch beim Aufwachen zog er wie ein Fischer an seinem Netz…
    Wahrscheinlich habe ich mein Leben lang mühsam herausziehen müssen, womit andere mich vollgestopft haben, dachte er und stieß einen Stein weg. Kein Wunder, dass ich langsam bin! Aber immerhin, heute war ja etwas aus ihm herausgekommen. Sie hatte es aus ihm herausgezogen. Und sie wollte mehr von ihm hören! Es ging weiter! Morgen!
    Er trank noch mehr Rotwein. Aß den Käse. Für Joel passte das Siegfried-Motiv. Was aber könnte er Annemarie Luner vorspielen? Die Tristan-Weise? Aber wenn sie das zu verfänglich fand? Tristan? Obwohl es ja passen würde, dachte er. Der Chef wäre König Marke. Er selbst Tristan. Allerdings spielt in der Oper nicht Tristan die Melodie, sondern ein unbekannter Hirte. Schafhirte. Schon wieder Schaf. Außerdem geht es schlecht aus mit Tristan und Isolde. Ingo und Annemarie. Er hatte sie sogar beim Vornamen genannt! Er staunte, lehnte sich zurück und summte eine Melodie, summte sie wieder und wieder. Die Worte hatte er vergessen. Es war eine Arie, die er auf einer Operngala erstmals gehört hatte. Bellini? Er hatte damals im Orchester ausgeholfen. Die Sängerin sah er nur von hinten, ihre einschmeichelnde Stimme hatte ihn angezogen. Passend zu der Stimme hatte er sich später eine Frau ausgemalt, mit der er mehrfach » am Ufer« war.
    Mit einer Handbewegung verscheuchte Herr Merse die Vorstellungen. Er summte wieder. Eine einfache Arie, ohne Verzierungsschmuck, mehr Lied als Arie, mit einer sanft auf- und abschwellenden, einprägsamen Melodie, die die Sängerin leise vorgesungen hatte. Eine Melodie, die, wenn er es recht bedachte, Annemarie Luner alias Anemone gut verkörperte. Wie hieß es doch gleich?
    »Vaga luna…« So fing das Lied an. Er suchte die Worte. »L’innocenti« oder »inargenti«? »Vaga luna« passte einfach wunderbar. Er würde es am liebsten Johannes vorsingen. Vaga Luna. Vages Mondlicht! Weiches Mondlicht. »Vaga Luner L’innocenta«, sang er glücklich vor sich hin. Er hob sein Glas und prostete ihrem Gesicht mit den glänzenden Augen zu. Er sprach kein Italienisch, stoppelte eine Übersetzung aus dem Lateinischen zusammen. Vielleicht hieß es: »Weiches Mondlicht, du glänzt

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