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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Nohr
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Er fand eine Betonrampe am Ende des Gleises und setzte sich auf ein schwarz-gelbes Plastikband, das den Rampenbereich absperrte. Schwarzgelb– salamanderfarben, dachte er. Bringt Glück. Alles passte jetzt.
    Er wartete.
    Windstöße wehten ihm Discofetzen ins Ohr, darunter ein paar elektronische Posaunentöne. Er hatte zu wenig geübt. Er musste üben, sonst war der Ansatz flöten. Er wollte auch üben. Er hatte sich viel vorgenommen. Mit dem Horntrio war er nicht weitergekommen. Er schaute zurück auf die vergangene Woche. Es war alles so zerrissen. Wenn er jetzt im Zelt lebte, würde es noch schwieriger werden. Hätte er doch einen Ort, wo er einmal am Tag so ein bis zwei Stunden üben konnte. Das würde ihm Halt geben. Er dachte an Yvonne, die junge Geigerin. Eine sympathische Kollegin, die Kammermusik machen wollte. Von ihm als Mann wollte sie bestimmt nichts, wie hatte er sich das nur einbilden können, und das passte jetzt gut, wo er ganz und gar mit Anemone Luner ausgefüllt war. Wenn sie zu dem Konzert käme! Er sah sie in der ersten Reihe sitzen, in einem schwarzen engen Kostüm, vielleicht mit etwas Rotem darunter. Ihn anstrahlen. Joel wäre auch dabei. Er würde Joel von der Bühne aus zuzwinkern. Frau Luner würde er sich kaum anzusehen trauen. Er würde sein Allerbestes geben. Er war nicht so lampenfiebergeplagt wie sie. Aber wenn er dann Kiekser produzieren würde…
    Es kiekste über ihm. Herr Merse fuhr zusammen. Der Lautsprecher kündete die Ankunft des Zuges an, und er realisierte, dass er es versäumt hatte, sich ein Konzept für die Begegnung mit Barbara zu überlegen. Jetzt war es zu spät. Der Zug lief ein.
    Aus den geöffneten Türen quollen viele Menschen. Es ist genau wie in der ersten Orakelstelle!, dachte Herr Merse. Es fließt so einiges aus den Rohrmündungen! Er hielt vergeblich Ausschau nach Barbara und Oskar. Vom Zugende her hörte er Barbaras Stimme: » Ingo! Iiiiiiiingooooooooooo! Hier sind wir!« Wie sie brüllte! Mit schrill-enger, etwas rauer Stimme, so dass das I von »Ingo« zugleich spitz und raspelig daherkam. Wie ein Pfeil mit Widerhaken. Er schüttelte den Kopf, drehte sich um und ging langsam auf sie zu.
    Barbara war unter ihrer Thailandbräune rot angelaufen; eine Strähne ihrer rötlich getönten, pagenschnittartig frisierten Haare– sie trug seit Jahren eine Frisur, die Herr Merse im Stillen Prinz-Eisenherz-Frisur nannte– klebte vor Anstrengung an einer Wange. Sie mühte sich mit dem Gepäck ab, und Herr Merse eilte ihr zu Hilfe. Seine große, teigig aufgeschwemmte Schwester kam ihm gealtert vor– oder täuschte er sich, weil er sie automatisch mit dem frischen Luner-Hauch verglich? Herr Merse versuchte es mit einem Willkommenslächeln, das unmittelbar an ihrer barschen Geschäftigkeit abprallte: » Hallo, na, da bist du ja, hast du die Taxe? Lass uns gleich mal da rübergehen.« Sie zeigte Richtung Taxistand an dem einzigen Ausgang, dem alle zustrebten. Nur eine Rohrmündung hier. Und kaum Vorplatz. Vor allem keine Taxis mehr.
    Herr Merse ging auf Oskar zu. Sein Schwager, groß und schlank wie Herr Merse selbst, wirkte blass und zog sich in einen sandfarbenen Anorak zurück, den er trotz der strahlenden Sonne trug. » Wie geht’s dir denn?«, fragte Herr Merse vorsichtig. » Ingo, komm, lass uns später reden«, tönte es von Barbara. » Gott, bist du langsam. Ingo die Schnecke. Kennt man ja. Oder machen das immer noch die Tabletten? Nun lass uns mal.« Sie schaute ihren Bruder auffordernd an. Herr Merse kam sich der roten Barbara und dem blassen Oskar gegenüber erholt und kräftig vor. Wie ein Rettungsschwimmer. Barbara ergriff einen großen Rollkoffer und ihre Handtasche.
    » Warte«, sagte Herr Merse. Er entdeckte am Rande des Bahnsteigs einen urtümlichen Gepäckwagen mit einem rohen Holzboden und rostig abgeblättertem Gestänge ringsherum. » Wir stellen alles da hinein.« Er zog den Käfigwagen heran, nahm Barbara den Rollkoffer aus der Hand, hievte alle anderen Gepäckstücke, darunter einen schweren Aktenkoffer und diverse elegante lederne Tragetaschen, hinein und schob los. Wie ein Stier. Von wegen langsam. Von wegen Tabletten. Von wegen Schnecke. Es quietschte und ratterte. Leute in Urlaubsstimmung lächelten belustigt. Barbara war es sichtlich unangenehm, mit einem derartigen Gefährt in Verbindung gebracht zu werden, in dem sich ihre teuren Gepäckstücke fremdartig ausnahmen. Wie schick angezogene Verbrecher im Schinderkarren. Sie kam mit Oskar

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