Herr Merse bricht auf
Mutterleib gelegen. Ulrich, der mit leise ironischer Stimme Wahrheiten aussprach, die er, Ingo Merse, am eigenen Leib selbst erfuhr, aber nicht in Worte hätte fassen können, höchstens mit seinem Horn in einer Musik ausdrücken, wie sie Johannes erdacht hatte. Ja, auf alle Fälle war Ulrich im Recht. Eine schlechte Ehe machte die Menschen schlecht. Aus Dagmar hatte die Ehe mit ihm eine Verhöhnerin und Betrügerin und heimliche Abtreiberin geformt. Aus ihm das schusselige Schaftier. War er das nicht andererseits immer schon gewesen? Aber gleichzeitig hatte es ihn auch immer schon stierwärts nach vorn gedrängt. Eine gute Ehe hätte ihn in dieser Richtung unterstützt. Als Schaf war er an einem langen Seil hinter seiner Familie hergetrottet. Dann hinter Dagmar. Dieses Seil war wohl Ulrichs » für die Ewigkeit berechnete schwer aufliegende Band«, das einen an Eltern und Schwester und Frau fesselte, solange man lebte. Herr Merse versank in dunklen Gedanken.
* * *
Ein Rumpelgeräusch. Neudeckers standen auf und wuchteten in ihrer engen Wohnung das Wandklappbett hoch. Es musste neun Uhr sein. Nach Neudeckers konnte man die Uhr stellen. Herr Merse arbeitete sich mühsam aus einer Schwärze hervor, in die ihn die Textpassage gezogen hatte. Er musste handeln! Immerhin gab ihm das Textorakel mit Agathes Entschluss den so dringend nötigen Hinweis für die Nebenfrage: Agathe hatte weder Mord- noch Selbstmordpillen benutzt; sie hatte an der Leiche des Vaters pillenlos ihren Trennungsentschluss von Hagauer kundgetan; also würde auch er heute auf die medikamentöse Hilfe verzichten. Und die Hauptfrage, die Luner-Frage– die musste er selbst klären. » Danke, Ulrich, ich hab’s verstanden«, sagte er laut.
Sein Handy klingelte. Und nun ging alles ganz schnell. Es war Barbara. » Ingo, was soll dieser Blödsinn?«, tönte es feststellend. » Wir kommen schon heute. Sind jetzt im Zug und kommen um 13 . 20 an, bitte hol uns ab, steh am besten mit einem Taxi bereit, denn Oskar muss geschont werden und kann nichts tragen. Wir haben viel Gepäck. Alles Weitere besprechen wir dann. Ich hab alles geregelt. Auch für dich.«
Auch für dich! Herr Merse fühlte sich überfahren. Sie reisten schon an! Damit hatte er nicht gerechnet. Die Brachialenergie seiner Schwester wirkte körperlich auf ihn ein; er wich mit dem Handy am Ohr einen Schritt zurück. Blieb dann aber stehen, holte tief Luft und sagte: » Ja, ich bin pünktlich in Westerland. Ja, ich stehe bereit. Aber ein Taxi brauchen wir nicht. Wir schauen in Westerland nach einer Unterkunft für euch. Dann muss Oskar auch nicht…« Das Handy piepte. Barbara hatte schon aufgelegt. Herr Merse blickte ohnmächtig das Gerät an. Er hatte gekämpft. Stopp gesagt. Gegen sie kam er nicht an. Er wusste nicht, wie viel sie von seinem Stoppversuch überhaupt mitgekriegt hatte. Ob sie auflegte, um nicht mit ihm diskutieren zu müssen oder um Telefonkosten zu sparen.
Er sank auf den Stuhl. Saß starr wie das Kaninchen vor dem Forscher. Gleich würde der ihn in seine Apparatur spannen, seinen Kopf in den Prangerbügel stecken und Versuche an ihm vornehmen. Der Forscher hob schon die Hand. Da hörte er aus Johannes’ Ecke das Wort: » Kurverwaltung.« Mit der unerwarteten Hilfe öffnete sich der Ohnmachtsbügel um seinen Hals. Herr Merse bewegte den Kopf, schüttelte sich, putzte wild die Zähne, verließ im Laufschritt die Wohnung. Im Stiergalopp! Er hatte Glück und traf hinter dem Schalter eben die Frau an, die er– wie es ihm schien: vor Wochen– nach der Adresse der Luners gefragt hatte. Sie erinnerte sich an ihn, vielleicht, weil er in ähnlich atemloser Verstörung an ihre Theke herantrat. » Was machen denn die Kinder?«, fragte sie freundlich. Herr Merse staunte, dass sie sich daran erinnerte, aber stieß unter Druck nur » Geht gut, geht gut« hervor. » Nein, heute komme ich meinetwegen. Es hat sich plötzlich ein… ein Engpass ergeben. Mein Schwager ist erkrankt, musste eine Asienreise abbrechen und will sich jetzt mit meiner Schwester hier in ihrer Ferienwohnung erholen. Das Problem ist: Ich wohne gerade darin. Aber sie ist zu klein für uns drei. Jetzt wollte ich Sie fragen, ob irgendwo eine Wohnung oder ein Zimmer frei ist. Vielleicht dass jemand vorzeitig abgereist ist oder… oder…«
Während er sprach, bemerkte er unglücklich, wie sich die Miene der Frau versachlichte. Neutral Verneinung ausdrückte. Er hatte es gewusst. » Da kann ich Ihnen nicht helfen. Wir
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