Herr Merse bricht auf
Hinsicht zu gewagt. » Es passt nur für mich«, flüsterte er Johannes zu, dachte aber gleichzeitig an Frau Luner und errötete. Er registrierte das Befremden eines Mannes, der zu ihm herüberblickte. Er musste aufpassen. Auf sich aufpassen. Er kaufte auch eine Luftmatratze und einen großen Rucksack, in den beides hineinpasste. Mit dem Rucksack auf dem Rücken fühlte er sich stärker. Jung und unternehmungslustig. Das Wandern ist des Müllers Lust. Geradezu gut gelaunt. Er lachte.
Bis zur Ankunft der beiden blieb noch eine Stunde Zeit. Er setzte sich in das Bahnhofscafé und spürte zufrieden den Rucksack an den Beinen. Reisesack. Es ging ihm viel besser. Danke, dachte er leise zu Johannes hin. Es kam ihm vor, als zwinkerte der ihm zu, plötzlich als der alte, väterliche Brahms mit dem wuchernden Bart über dem halben Gesicht. In Herrn Merse mischten sich Dankbarkeit, Sehnsucht und Schmerz. Er schluckte nur mühsam die Tränen hinunter. Ein Vater half ihm. Der lebende und nicht wie im Orakel der gestorbene Vater.
Beglückt rührte er im Milchkaffee. Er bereute jetzt, so altmodisch gewesen zu sein und sich mit Frau Luner auf die Zettelkommunikation eingelassen zu haben. Wenn er sie jetzt per Handy kontaktieren und ihr alles kurz erzählen könnte! Es wäre eine so gute Möglichkeit, ganz indirekt und harmlos zum Ausdruck zu bringen, wie wichtig sie ihm geworden war. All dies nahm er doch nur für sie auf sich! Er wäre ja sonst einfach abgereist. So deutlich würde er ihr das natürlich nicht sagen, aber sie würde es sicherlich erraten. Das würde eine Frau wie sie merken, dass einer ihretwegen wild zeltete und Gefahr lief, von der Strandpolizei aufgespürt und auf die Wache geschleppt zu werden. Wie ein Obdachloser. Er sah sich mit Dreitagebart in einer Zelle. Ja, er war ab jetzt ein Vagabund. Er könnte zum Beispiel betteln. Oder den Milchkaffee nicht bezahlen. Er rührte wild um.
Nach einer Weile verscheuchte er die kriminellen Gedanken. Sie passten nicht zu ihm und schon gar nicht zu Ulrich und am wenigsten zu dessen toten Vater mit den Orden. Ulrich würde so etwas nicht denken, geschweige denn tun, aber er würde es verstehen, dieser gedankenreiche, faltige Sohn eines so ehrenvoll dekorierten Mannes und Schwager eines Kriegsministeriumsbeamten. Herr Merse bestellte noch einen Milchkaffee. Als er die Schaummütze abhob, dachte er: Jetzt werde ich öfter im Café sitzen. Morgens aus dem Zelt kriechen, alles schnell zusammenrollen und in den Rucksack stopfen. Bei der Vorstellung fiel ihm auf, dass er vergessen hatte, einen Schlafsack zu kaufen. Es konnte aber nachts empfindlich kalt werden auf Sylt, auch im Sommer. Schafskalt. Eine Decke von Barbara wollte er nicht. Und ob Luners eine Decke übrig hatten, war ungewiss.
Er stand auf, bezahlte dann doch und ging wieder ins Kaufhaus. Es gab nur wenige Schlafsäcke. Er wollte einen , den man möglichst klein zusammenrollen konnte, es musste ja alles in den Rucksack passen. So etwas gab es nicht, aber er konnte den Schlafsack als Rolle hinten auf den Rucksack schnallen. Er wählte einen grünen, einfachen. Militärisch kam er ihm vor. » Soldat der Liebe«, murmelte er. So machte er dem österreichischen Ulrich-Freund Ehre. Zumindest keine Schande.
Herr Merse ging zum Bahnhof. Er überlegte, ob er die Ausrüstung in ein Schließfach stopfen sollte, um seine Absichten vor Barbara zu verbergen. Aber dann würde sie ihm all ihr Gepäck aufbürden. Ach, das würde sie sowieso. Schließfach? Er schielte seitwärts zu Johannes. Der nickte. Er sah wieder jung aus. Herr Merse ging die Reihe der Schließfächer ab. Viele waren belegt, aber in einigen steckten Schlüssel. Das Fach mit der Nummer 51 war leer. Ha! Das war ein Zeichen. Schließfach wie Strandkorb waren Glücksheime, in denen er als Ausgestoßener unterkam. Er brachte den großen Rucksack mit den Campingsachen im Schließfach unter und behielt nur den Übernachtungsbeutel bei sich. Als Reisesack des Lebens und ständigen Begleiter. Als er den Schlüssel in seiner Hosentasche verstaute, vergewisserte er sich, dass die Tasche heil war. War sie. Ohne Loch. Er brauchte den Schlüssel. Er war im Besitz einer wohlverschlossenen Ausrüstung und eines Heims, stand also fest auf dieser Erde und würde Barbara in Ruhe erwarten.
Zufrieden schlenderte er über den Bahnhof und schaute sich nach einer Bank um. Das Bahnhofsbistro, das den kleinen Sackbahnhof aus Lautsprechern mit Discomusik bedudelte, kam nicht infrage.
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