Herr Merse bricht auf
Zeh die Namen Andreas und Merse nebeneinander in den Sand und begann, Wörter aus beiden Namen zu bilden. Aus » Andreas « ließen sich mehr Worte bilden, aber es waren negative wie SA dabei. Die wenigen Merse - Worte waren einfach und bedeuteten Gutes. Ein Unsinnswort, »Serme«, gab ihm unvernünftigerweise Trost. Es bildete ein Amalgam aus »Samen« und »Sterne«. »Serme, serme«, sagte er. Kinder haben Sterne gerne.
Herr Merse saß bis zum Abend im Strandkorb. Sein Kopf war voller Reste. Sie blieben liegen, wie sie kamen. Lagen kreuz und quer im Gehirn herum. Er wurde hungrig, kaufte sich ein Fischbrötchen, setzte sich wieder in den Strandkorb und aß. Sein Handy ging. Zitternd schaute er aufs Display. Barbara. Er ging nicht ran. Er wandte sich nicht an Johannes. Er schämte sich, dass er es je gewagt hatte, mit ihm wie von gleich zu gleich zu reden. Auch Ulrich kam nicht infrage. Herr Merse fühlte sich zu schwach, zu niedrig für beide. Er wartete. Er wartete nur auf eines, auf den Anruf von Frau Luner.
Da endlich. Der Cembaloton drang ihm ins Innerste. Unbekannt. Wieso unbekannt? Er hörte die Stimme von Anemone Luner. » Herr Merse, was ist los?«, fragte sie mit ihrer schlichten Direktheit, die ihm das Herz warm ausfüllte. Die sein Resthirn normalisierte. Ihn zu einem ganzen Menschen machte. Er öffnete den Mund und lauschte auf seine eigenen Sätze: » Meine Schwester ist plötzlich gekommen mit ihrem Mann. Er ist krank. Sie brauchen jetzt die Wohnung. Ich habe kein Quartier gefunden, will aber nicht abreisen und werde daher zelten. Weil ich hierbleiben möchte. Kann ich meinen Koffer und mein Horn bei Ihnen stehen lassen? Oder nimmt das zu viel Raum ein?« Er wunderte sich über seine sachlichen, klaren Aussagen. » Aber natürlich. Klar können die Sachen hierbleiben.« » Ich würde Ihnen gern noch etwas Schlimmes erzählen«, fügte Herr Merse leise hinzu. » Oh, das scheint ja heute ein Unglückstag zu sein«, klang es besorgt aus dem Handy. » Ich würde gern Ihr Schlimmes anhören. Kann aber jetzt nicht. Denn bei uns gibt es auch Schlimmes. Joel ist krank. Er hat eine Art Sommergrippe. Vielleicht mehr. So etwas wie Krampfanfälle. Er übergibt sich ständig. Hat hohes Fieber. Ich habe den Notarzt angerufen.« Herr Merse begann zu zittern und beherrschte sich gewaltsam. » Oh, der Arme«, brachte er heraus. » Gute Besserung dann. Ich frage morgen nach ihm. Dann sprechen wir eben morgen. Oder später. Wenn er wieder gesund ist.« » Ja«, sagte sie. Dieses Ja sprach sie mit ihrer tonlosen Stimme. » Frau Luner?«, fragte er besorgt. » Bis morgen!«, hörte er sie noch einmal, dann war die Verbindung unterbrochen.
Er rang nach Luft. » Oder später.« Vertröstete sie ihn auf ein Später, das es nie geben würde? Nein, sie war besorgt. Hatte vielleicht wenig geschlafen. Ja. So musste es sein: Die Sorge um Joel hatte die Klangschwingungen aus ihrer Stimme weggedämpft. Schwingungen, die vom ersten Moment an, wo sie ihn im Zug freundlich begrüßt hatte, zwischen ihnen hin- und hergegangen waren. Aber hatte er denn im Zug zurückgelächelt? Ach– selbst wenn nicht; inzwischen wusste sie doch sicher, wie empfänglich er für ihre Schwingungen war. Und dass schwer aufliegende Bänder sich gerade bei ihm lösten. Bewirkt durch ihre Begegnung.
» Diese Nacht wird mein Leben verändern«, sagte er mit fester Stimme. Er freute sich über einen so klaren, männlichen Satz. Dann ballte er die Faust und stöhnte laut auf. So viel Leid, so viel Stress für die durchlässige Frau Luner . Wut auf das Schicksal packte ihn, das zur Unzeit eine Insolvenz schickte, einen Infekt, einen Schlaganfall. Oder eine Schwangerschaft. Er zog die Augenbrauen zusammen. Aber er würde dagegenhalten. Er ließ sich Annemarie Luner nicht wegnehmen. Joel, der Goldjunge, würde schon wieder gesund werden. Er sah ihn vor sich, wie er Zweige in Sandwälle steckte, und kehrte zu der gepressten Luner-Stimme zurück. Am liebsten würde er sein Ohr auf Frau Luners Brust legen und auf das leichte Summen ihrer Stimmbänder hören, dabei seine Haut auf ihrer Haut spüren. Ihren Duft einatmen. Langsam würden dann die Tonschwingungen bemerkbar werden. Wenn der Ton unter innerem Druck flach zusammengepresst wäre wie eben, dann würde er die abgeklemmten Obertöne behutsam aus ihr wieder hervorlocken. Das konnte er als Hornist. Er war nicht wie Pan, der seine wulstigen Lippen auf irgendeine Nymphe drückte, die unter seiner Gier
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