Herr Merse bricht auf
eine Seite aus dem » Mann ohne Eigenschaften«? Aber welche Tabletten jetzt und wie viele? Er war planlos. Alles kam ihm sinnlos vor. Sein Überlebensbeutel rutschte von der Lehne, er nahm ihn vom Fußboden wieder auf. Erst Freibeuter, jetzt Beutel-Merse. Warum schwankte er? Ein feste Burg ist unser Gott. Wenn sie das früher in der Kirche gesungen hatten, hatte er sich ritterstark gefühlt. Brauchte er Rüstungen? Hatte er keinen Gott in sich? Alle Pillen auf einmal nehmen. Schluss mit dem Kämpfen. Schluss mit dem Wanken. Agathes Selbstmordpille.
Aber Agathe hatte es ohne Pillen geschafft. Er wollte es ihr gleichtun. Er hatte zwar keinen toten Vater, an dessen ordensgeschmückten Leichnam er diesen Entschluss bekräftigen konnte. Aber er hatte ein totes Kind. Wohin war es verschwunden? Wohin würde er verschwinden, nähme er alle Pillen auf einmal? Käme dann die schwarze Minna? Und wenn er es dort träfe, sein Söhnlein? In der Kutsche? Wenn der Kleine dort auf schwarzen Kissen liegend die Ärmchen ausstrecken und sich freuen würde, dass er endlich käme? Wann hatte sich überhaupt je ein Mensch gefreut, dass er kam? Er sah Annemarie Luners Gesicht in der Strandkorbecke mit dem Weinglas davor. Hatten ihre Augen ihn angeleuchtet? Er hörte Joels Stimme: » Wie war das mit dem Minotaurus?«
Die Pizza kam. Gott, war er hungrig! Terrierhaft. Er bestellte noch einen Grog. Ging auf die Toilette und versuchte, an dem gewaltig sausenden Gebläse einer Händetrockenmaschine seine nassen Haare zu föhnen. Es war unbequem, den Kopf so weit nach unten zu halten und hin und her zu drehen, aber der Wärmestrom tat ihm gut. Er fuhr mit dem Kopf hoch, als die Tür aufging und ein Gast ans Urinal trat. Hastig verließ er den Raum.
Nach einem dritten Grog und einem Tiramisu fühlte Herr Merse sich besser. Der Regen schien etwas nachzulassen. Sein Kopf war trocken und glühte. Er schwor seinem toten Söhnchen, ihn zu sich zu holen und immer bei sich zu tragen. Wie einen Däumling. » Das ist die bessere Lösung«, murmelte er ihm zu. Besser als wenn er ihn im großen Unbekannten suchte. Da sei doch unsicher, ob sie sich je fänden. » Ich nehm dich mit, und du bekommst einen Bruder, einen großen Bruder, Joel. Einen Bruder, wie ich ihn gern gehabt hätte. Den bekommst du.« Er lächelte bei dem Gedanken. Er sah sein kleines Söhnchen neben Joel auf dem Sand sitzen und nach den von Joel gesammelten Muscheln greifen. Herr Merse saß daneben und gab ihm einen Seestern. Der nur vier Arme hatte. Hier, dein Stern! Kinder haben Sterne gerne. Serme, serme.
Er brabbelte glücklich vor sich hin. Die Frau vom Nachbartisch, die schon eine Weile verstohlen zu ihm hinübergeblickt hatte, stieß ihren Begleiter an. Herr Merse nahm es wahr, aber es berührte ihn nicht. Denn er hatte eine Grenze überschritten. » Eure Euter und Schnuter und Puter hab ich abgeschüttelt.« Er sah der Frau mit stolzer Miene ins Gesicht. Sie wandte den Kopf ab. Ha! Sollte Dagmar doch das Kind von diesem Hänfling bekommen. Ihm war das egal. Denn sein Söhnchen war ab jetzt bei ihm. Die Mattigkeit war geschwunden. Mit dem Söhnchen kam die Festigkeit. » Nieder mit dem Matterhorn. Freie Sicht zum Mittelmeer!« Diesen Spruch hatte sein bester Schüler Wolf einmal mitten in der Stunde heraustrompetet. » Merse, auf zum Matterhorn!«, rief er sich innerlich zu. » Auf zum wilden Zelten!« Er lachte wieder und rief den Kellner mit so lauter Stimme, dass die Frau den Kopf schüttelte.
In dem kleinen verglasten Vorraum des Restaurants sah er mit einem gewissen Schrecken, dass sein Eindruck getäuscht hatte. Es goss stärker als vorhin. Herr Merse blickte auf die bunte Reihe der Anoraks auf der langen Garderobenstange und wählte nach kurzem Zögern den besten aus, eine dunkelblaue große Windjacke mit Kapuze und weiß abgesetzten Taschen. Er zog sie an, schlug die Kapuze hoch und verließ das Restaurant.
Es war eine gute Wahl. Der Anorak war geräumig. Er gehörte offenbar einem sehr großen und breiten Mann und reichte Herrn Merse bis zu den Oberschenkeln. Die Kapuze ließ sich zuzurren. Ein guter Griff. Er steckte die Hände in die Taschen. In einer Tasche war ein volles Päckchen Papiertaschentücher. Die andere enthielt Bonbons. Er nahm sie heraus. Ricola. Und das habt zum Zeichen! Er lachte und steckte einen Bonbon in den Mund. Holunder. Vor dem Schließfach Nummer 51 wollte er den Schlüssel aus der Hosentasche fischen und fand ihn nicht. Er stülpte die
Weitere Kostenlose Bücher