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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Nohr
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verschwand, im Gegenteil, er würde Annemarie wieder zu sich bringen. Er würde sie mit dem Hornton tragen wie der Stier. Ja. Er weinte. Das würde ihnen beiden guttun.
    Langsam wurde er ruhiger, das Zittern legte sich. Er atmete tiefer ein und aus und wurde zuversichtlich, Frau Luner zur Seite stehen zu können. Er würde morgen Vormittag Brötchen holen für sie, für Joel Zwieback kaufen. Alles zu ihnen bringen, sie am Krankenlager ablösen. Er würde Joel Geschichten erzählen. Ihm das Horn zeigen. Das Siegfried-Motiv andeuten, aber nur stimmlich. Für den mächtigen Hornklang müsste Joel erst wieder gesund werden. Ihm die ganze vertrackte Ring-Geschichte erzählen. Ja, das wäre was für den kleinen Konstrukteur, der alles ganz genau wissen wollte. Joel würde bestimmt beim Zuhören einschlafen, die Geschichte war so kompliziert, da schliefen selbst gesunde Erwachsene ein…
    * * *
    Herr Merse stand auf. Er wollte jetzt seine Sachen aus dem Schließfach holen und sich einen geeigneten Zeltplatz suchen. Vielleicht am Wattenmeer, wo mehr Gras war, nicht nur Sand. Wie sollte er in den Dünen ein Zelt aufbauen. Im Sand hielten ja die Heringe nicht. » Da lachen ja die Heringe!«, rief er laut in den Wind hinein. Der Spruch kam von ihm! Nicht von Dagmar. Er sprach sich Mut zu. Es hatte aufgefrischt. Die Nachbarn zur Rechten drehten ihren Strandkorb herum, dass er dem Wind den Rücken bot. Herr Merse sah, dass die meisten anderen Körbe auch schon umgestellt waren. Er fragte den Nachbarn, einen rundlichen Schwaben, nach den Wetteraussichten und bekam zu hören, dass ein Tiefdruckgebiet mit Starkwind und Regen bevorstand. Der Schwabe kippte sogar seinen Strandkorb mit der Öffnung nach unten auf den Sand.
    Herr Merse folgte dem Beispiel der anderen und wuchtete den Strandkorb herum, blieb mit der Hose an der Seitenablage hängen und fluchte. Oder sollte er die Lok ganz umkippen? Er stieg die Treppe zum Kliff empor, drehte wieder um, stemmte sich gegen den Wind und legte seine 1423 doch auf die schwäbische Weise um. Er wollte sich am kommenden Tag in ein trockenes, sauberes Gehäuse setzen. Seinen Ferienuterus. Er sah plötzlich Dagmars vorgewölbten Bauch vor sich und wischte das Vorstellungsbild schnell weg. Auch die 1051 legte er nach einigem Zögern mit dem Gesicht auf den Sand, so vorsichtig und liebevoll, wie ihm dies mit dem schweren Gegenstand möglich war.
    Auf dem Fahrrad merkte Herr Merse, wie stark der Wind aufgefrischt hatte. Und wie kühl es geworden war. Geradezu herbstkühl. Mit aller Macht trat er in die Pedale. Der Wind kam aus West und fuhr ihn böig mal von schräg vorne, mal von der Seite an. Er kämpfte. Kämpfen tat ihm jetzt gut. Die Grenze war überschritten, das Band zwischen Barbara und ihm durchschnitten. Ihr Fahrrad stand ihm als entmietetem Vagabunden nicht mehr zu, er hatte es sich erbeutet. Beute mit eu wie »euer«. Euer Kind. » Es war nicht unser Kind! Hör auf mit euer! Es gab kein Wir!«, brüllte er in die grau geballten Westwolken hinaus. Johannes hörte es nicht. Ihre Wege hatten sich getrennt. Es begann zu regnen; in schrägen Bahnen flogen die Tropfen auf ihn zu.
    Nass kam er in Westerland an. Hätte ich doch ein Schaffell!, dachte er. Seine warme Kleidung befand sich im Rollkoffer. Unzugänglich im Zimmer des kranken Joel. Er ärgerte sich, dass er nicht wenigstens an seine Windjacke gedacht hatte. Oder an einen Wollpullover. » Wolle, Kinder, Wolle«, hörte er seinen Vater den Ferienkindern einschärfen. » Wolle gegen kühlen Wind.« Sein Traumschaf war kurzfellig wie ein Terrier. Also steckte auch in ihm ein Terrier. Er würde es ohne Wolle schaffen. Er beschloss, in eine Pizzeria zu gehen und sich dort zu stärken, bevor er sich mit dem Zelt ins Freie wagte. Ihm schwebte ein warmer Pizzaofen vor.
    Doch es gab keinen Ofen, die Pizzen wurden in der Küche zubereitet. Er bestellte einen Rumgrog. Mit dem Grog trank er sich Schluck für Schluck in ein Freibeutergefühl hinein. Er durchsuchte seine Überlebenstasche. Eine SMS von Barbara drückte er ungelesen weg. » So macht man das. Das hättste nicht gedacht von deinem kleinen Ingo«, schnaubte er befriedigt vor sich hin. Während er in dem Gesumm der Gäste auf die Pizza wartete, wurde es draußen dunkel. Früher als sonst. Grauschwarze Regenwolken zogen sich zu einer tief hängenden Bleidecke zusammen. Herr Merse spürte, wie ihn angesichts der klammen Kleidung der Mumm zu verlassen drohte. Jetzt doch Tabletten? Oder noch

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