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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Nohr
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Übernachtungstasche um, nahm alles einzeln heraus und tat es wieder hinein. Kein Schlüssel. Er durchsuchte sich von oben bis unten. Lückenlos. Er durchsuchte sogar den fremden Anorak. Ungläubig sah er um sich auf den Boden. Ob er vielleicht nicht gemerkt hatte, wie der Schlüssel heruntergefallen war? Er wusste aber: Da war nichts gefallen. Er erinnerte sich genau, den Schließfachschlüssel in die rechte und den Fahrradschlüssel in die linke Hosentasche gesteckt zu haben, damit sich nichts ausbeulte und sich die Schlüsselbärte nicht gegenseitig durch den Stoff bohrten. So umsichtig war er gewesen! Er schüttelte fassungslos den Kopf. Er fand sich im Albtraum des Obdachlosen gefangen, der seine Plastiktüte mit Habseligkeiten im Suff an einen Papierkorb lehnt, wo sie von der Müllabfuhr mitgenommen wird, während er dahinter auf einer Parkbank schläft.
    Der Schlüssel war und blieb weg. Herr Merse schaute sich auf dem verlassenen Bahnhof um, ob er sich an irgendjemanden wenden konnte. Einen Bahnbeamten. Die Heilsarmee. Nichts. In Hamburg gab es Obdachlosenheime. Aber auf Sylt? Dieser wohlhabenden Insel? Er musste die Nacht überbrücken. Morgens seinen Fall mit dem verlorenen Schlüssel einem Bahnbeamten vortragen. Wenn er aufzählen konnte, was im Schließfach war, gaben die ihm sicher seine Sachen zurück. Gegen eine Strafgebühr wahrscheinlich. Zu Barbara in die Kammer ging er nicht. Das wäre eine Niederlage, von der er sich nie mehr erholen würde. Außerdem durfte Oskar sich nicht aufregen. Das würde er aber. Barbaras Niebüll-Arrangement kam auch nicht infrage. Er ließ sich nicht von Barbara bevormunden. Zu Luners konnte er nicht. Auf gar keinen Fall den kleinen Kranken und seine besorgte Mutter stören. Er überlegte, ob er die Westerländer Hotels abklappern sollte. Vielleicht war jemand bei dem schlechten Wetter plötzlich abgereist, und er könnte dessen Zimmer übernehmen. Unschlüssig ging er auf den Westerländer Hof zu. Dann fiel ihm siedend heiß der Anorak ein, an den er sich schon gewöhnt hatte. Was, wenn er dessen Besitzer begegnete! Der gerade da wohnte! Er drehte wieder um.
    Vor dem Schließfach mit der Glücksnummer sprach er sich gut zu. Wo hast du den Schlüssel das letzte Mal bewusst gesehen oder gefühlt? Von allen Situationen, die er innerlich durchkämmte, blieben zwei übrig: das mühsame Umdrehen der beiden Strandkörbe und das Föhnen der Haare, wo er sich verrenkt und vorgebeugt hatte. Er fuhr zu der Pizzeria zurück, zog neben dem Lokal den Anorak aus und verknäulte ihn auf dem Fahrradgepäckträger. Er betrat ohne Zögern das Restaurant, ging stracks zur Herrentoilette und suchte auf dem Boden herum. Kein Schlüssel. Unter dem Trockner nicht. Neben der Kloschüssel nicht. Auch nicht in der Kloschüssel.
    Wieder draußen, schob Herr Merse das Fahrrad ein Stückchen weiter, zog schnell den Anorak an, fuhr zum Bahnhof und suchte noch einmal um das Schließfach herum alles ab. Dann fuhr er mit Rückenwind durch den Regen nach Wenningstedt. Zielstrebig und gleichzeitig benommen stapfte er durch den nassen schweren Sand auf 1423 zu. Er überlegte. Zeichnete dann mit dem nassen Schuh einen Kreis um den flach gelegten Korb. Teilte den Kreis in vier Viertel auf. Suchviertel nannte er sie. Systematisch begann er mit den Händen den Sand zu durchpflügen. Er wunderte sich über seine neue zähe Ausdauer. Komisch, alle seine Eigenschaften ähnelten der Beharrlichkeit. Gab es nichts anderes? Der Mann mit einer Eigenschaft. Beim Hornlernen war er auch ausdauernd gewesen. Beim Aneignen neuer Stücke. Und jetzt studierte er ein neues Stück Leben ein.
    Vier Suchviertel Sand. Immer wieder die Vier. Der Sand war nur ein bis zwei Zentimeter tief durchnässt. Darunter trocken und sogar warm. Wenn ich einmal so systematisch bei Dagmar und mir nach Gründen gesucht hätte, wie ich jetzt nach dem Schlüssel wühle, dachte er reuevoll. Und zwar rechtzeitig. Gleich nachdem ich das Gefühl hatte: Ich habe sie verloren. Dieses Gefühl war eigentlich sehr bald nach der Heirat da gewesen, aber er hatte alles aufgeboten, es wegzuschieben.
    Als er alle Sandviertel ohne Erfolg durchwühlt hatte, war er erschöpft. Ein hoffnungsloses Unterfangen, dachte er. Es regnete unablässig, die Hosenbeine klebten sandig an den Waden. Die Schuhe hatte er ausgezogen. Er hob nun den Strandkorb an. Es war inzwischen stockdunkel, Fühlen musste ausreichen. Er stellte den Strandkorb als Wall gegen den Regen auf und

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