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Herr Möslein ist tot (German Edition)

Herr Möslein ist tot (German Edition)

Titel: Herr Möslein ist tot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Meissner
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Thälmannstraße entlang. An einer der beiden Stern-Post-Telefonzellen hat sich eine lange Schlange gebildet. Sie scheint zu funktionieren. Ich atme auf, stelle mich an und werde so ruhig und entspannt, wie immer wenn ich Vertrautes erlebe. Mit einem möglichst unauffälligen Blick scanne ich die Wartenden vor mir. Alle tragen, soweit ich das sehen kann, den Hosenbund ihrer Jeans oder Stoffhose in Taillenhöhe. Ich auch. Und ich finde es sehr angenehm, dass mein Bauch nicht unschön in der Mitte eingedrückt wird und meine Nieren warm sind. Das ist beim Anstehen im Freien einfach gesünder.
    Eine halbe Stunde später wähle ich Jürgens Nummer. Ich muss mich nicht wie anderswo in der Republik über ein Amt verbinden lassen, im Potsdam ’ 89 reicht die Auslandsvorwahl. Jürgen hat bereits direkt neben dem Gemeinschaftstelefon auf dem Flur des Internats auf meinen Anruf gewartet, wie er mir wortreich erklärt. Es klickt im Hörer. Aha, denke ich, jetzt hört jemand zu, der eine Westkassette aus einem Westpaket gestohlen hat, um meinen Anruf mitzuschneiden. Davon hatte ich in einer Reportage der ARD 2012 gehört.
    »Hör mal, Jürgen, nur ganz kurz«, versuche ich Jürgen zu unterbrechen. »Ist bei dir alles klar?«
    »Natürlich. Welchen Geburtstag feiert denn die Oma?« Jürgen ist gut drauf und ich bin gespannt, ob er mein ausgeklügeltes System, die Zimmernummer 223 betreffend versteht.
    »Haha, ja, stell dir vor, Oma feiert gleich zwei Mal ihren achtzigsten und meine Tante ihren dreiundsechzigsten! Ist das nicht toll? So viele Geburtstagsfeiern auf einmal.« Zum ersten Mal seit meinem Erwachen in der alten Zeit bin ich dankbar, dass es kein Internet gibt, denn so ist es dem »Lauscher an der Wand« unmöglich, sofort die Geburtsdaten meiner Verwandtschaft zu googeln.
    »Jürgen? Hörst du mich?«
    »Äh, ja … äh … null Problemo, höchstens so zwei, äh zwei bis drei!« Ich atme auf, er scheint mich verstanden zu haben. Als Student dürfte Logik ja auch kein Fremdwort für ihn sein.
    »Das fetzt. Dann … mach’s gut, ja?« Und schon habe ich aufgelegt. Während ich ein Markstück in meinem Portemonnaie suche, erlaube ich mir zum ersten Mal eine große Portion Hoffnung, dass der pfiffige Jürgen nicht nur die Zimmernummer verstanden hat, sondern mir auch heute Abend sagen kann, wo ich Carsten finde. Es klopft an die Scheibe der Telefonzelle. Ich mache eine Beschwichtigungsgeste und wähle schnell die Nummer meiner Eltern in Erfurt. Der Klopfer verzieht angewidert das Gesicht. Während ich dem Freizeichen lausche, ziehen die Reste eines teilweise zerfetzten und verblichenen Pappschildes an der Zellenwand meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich versuche, den kaum lesbaren Werbeslogan zu entziffern, bis der Klopfer seinen Ernst-Thälmann-Hut in die Zelle schiebt. »Junge Frau, da steht’s doch drauf!«, schüttelt er seinen Arm nachdrücklich in die Pappschildrichtung: »Fasse dich kurz!«
    »Nein! Da steht nur noch ›F…urz‹«, antworte ich lächelnd und schließe die Tür vor seiner Nase. In dem Moment höre ich Mamas Stimme. »Hallo?«
    »Hallo, Mama, ich bin’s.«
    »Lexi?«
    »Nein, dein anderes Kind!« Mama kann, wie viele meiner Freunde auch, die Stimmen von mir und meiner Schwester nicht auseinanderhalten.
    »Ach schön! Wie geht es denn Pauli? Bringst du sie in den Ferien zu uns?«
    »Wollte ich das tun!?«, frage ich verwirrt.
    »Ja, das haben wir doch alles schon besprochen. Du bringst Pauli am 13. Oktober, weil du am 14. wahrscheinlich nach Hamburg fährst.«
    »Ach ja. Stimmt ja!«, mir fällt ein Stein vom Herzen. »Wie geht es euch, Mama?«
    »Ganz gut. Papa ist von der Kur zurück. Ich passe auf, dass er sich nicht so aufregt. Er schimpft jetzt immer, weil niemand etwas dagegen macht, dass hier alle abhauen. Aber wir reden lieber darüber, wenn du hier bist!« Mama hat vor Mithörern Angst und wechselt das Thema. »Sag mal, Tati, hast du etwas von deiner Schwester gehört? Sie hat lange nicht angerufen, und ich mache mir Sorgen um sie.«
    »Mama, wie sollte ich etwas hören? Lexi wohnt in Berlin, und wir haben beide kein Telefon. Und mach dir bitte keine Sorgen, das hilft nicht. Es kommt, wie’s kommt.«
    Jetzt presst der Klopfer seine Hände zwischen seine Augenbrauen und die Telefonzellenglaswand. An einem Arm baumelt eine alberne Handgelenktasche. Klopfers Augen sind bedrohlich weit aufgerissen, die Stimme klingt dumpf und unverständlich durch die Scheibe. Er ist kleiner als ich und

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