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Herr Möslein ist tot (German Edition)

Herr Möslein ist tot (German Edition)

Titel: Herr Möslein ist tot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Meissner
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mehr aushalten. Ich schaue mir bestimmt zum 1000. Mal den Zettel an, den mir Kellner Pausbacke aus der Schwarzen Rose zusteckte.
    »C. ist in WB. Wollte als Kellner am Wittenbergplatz arbeiten.« Als ich diese Zeile zum ersten Mal in Rudis Wartburg las, fiel es mir wieder ein. Carsten hatte in der Nähe des KDW , im Restaurant seines Onkels, nach der Ausreise sein erstes Westgeld verdient. Vorfreudig suche ich im Wohnzimmerschrank ein Outfit zusammen, mit dem ich in Westberlin nicht unangenehm auffalle: die schwarze, seidig schimmernde Bluse, dazu die goldfarbene Gliederkette, eng um den geschlossenen Kragen gelegt. Darüber ziehe ich meinen schwarzen Blaser aus dem Exquisit, dazu die schwarz-pinken, spitzen Schnürschuhe und eine gerade geschnittene Jeans. Durch die doppelten Schulterpolster in Bluse und Jackett wirke ich zwar ein bisschen kurzhalsig, aber das gilt zurzeit als besonders schick. Ich trage keinen BH , ich weiß doch, dass Carsten große Brüste nicht besonders mag. Ich lege ein wenig Rouge auf und steige wenige Minuten später in Bettys himmelblauen Trabant, der fröhlich brummt und uns gut gelaunt übers Land in die große Stadt zum Checkpoint Charly fährt. Dort in der Krausenstraße befindet sich der Sitz der Künstleragentur der DDR , wo wir unsere mit einem Visum gestempelten Pässe abholen sollen. Nicht nur Betty und ich strahlen an diesem Herbsttag, auch die Sonne blinzelt schon etwas winterschwach über Berlin.
    Gegen Mittag klopfen wir an die Tür unserer verantwortlichen Agentin. Frau Lukas blickt uns betrübt entgegen. »Mädels, die Pässe sind noch nicht da. Ihr werdet wohl ein wenig warten müssen. Habt ja noch Zeit. Wann müsst ihr drüben sein?« Sie spricht sehr schnell, wühlt dabei in einem dicken Aktenordner und ruft erleichtert, noch bevor wir etwas sagen können: »Ach, erst 16 Uhr! Dann lasst uns etwas essen gehen, ja?« Wir folgen der schicken Frau Lukas in die Kantine. Noch verläuft dieser Nachmittag, wie ich es erwartet habe, also genau wie vor über 20 Jahren. Ich verdränge darum vorerst jeden Gedanken an Campingbeutel.
    In der Kantine der Agentur gibt es heute Spirelli mit Tomatensoße und Jägerschnitzel in Form einer gebratenen Jagdwurstscheibe, mein Lieblingsessen, seit ich im Kindergarten einmal wöchentlich damit verwöhnt wurde. Ketchup und Jagdwurst werden bald ganz anders schmecken, genau wie Hallorenkugeln oder Brötchen. Während ich den Teller ratzekahl leer esse, plaudert Betty managermäßig mit Frau Lukas über die Abrechnung unseres Honorars, von dem 25 Prozent bei der Agentur verbleiben und weitere 25 Prozent 1:1 in Mark der DDR getauscht werden müssen. Derweil lächelt mich Erich Honecker von der gegenüberliegenden Kantinenwand unverwandt an. Ich überlege, wie ich sein Lächeln in dieser Situation werten soll. Dankbar? Immerhin bekommt er von 275 DM die Hälfte, mehr als jede einzelne von uns. Wenn wir heute das Visum bekommen, gönne ich ihm seinen Anteil. Ich lächle und denke: Ich weiß, was bald mit dir passieren wird. Unsere 137,50 DM werden dich nicht retten!
    Nach dem Essen müssen Betty und ich auf dem Gang warten. Ich zapple auf meinem Stuhl, während Betty entspannt ein Buch liest. »Der geteilte Himmel«. Ich kenne diese Erzählung der durch den Mauerbau tragisch endenden Liebesgeschichte von Christa Wolf, die mir hier auf dem Gang der Künstleragentur als gutes Omen erscheint, werde ich doch durch den Fall der Mauer meiner großen Liebe begegnen. Wenn alles gut geht, schon heute. Endlich, gegen 15 Uhr kommt Frau Lukas aus ihrem Büro gestöckelt. Ihr grauer Kostümrock hat mittlerweile etliche Sitzfalten und passt zu ihrer Stirn, die sie, eine Bedrohung signalisierend, in eine plissierte Position verschoben hat. »Mädels!«, ruft sie aufgeregt. »Eure Pässe sind unterwegs und werden in etwa dreißig Minuten endlich hier sein. Aber ihr habt keine Erlaubnis, mit dem eigenen Auto zu fahren. Habt ihr drüben jemanden, der euch fahren könnte?«
    »Na, wenn wir das dürfen?!«, Betty ist überrascht, dass uns Westkontakt empfohlen wird. Natürlich gibt es nur einen, der uns fahren könnte. »Tati, was ist denn mit dem Jürgen?«, fragt Betty logischerweise nach dem Mann, dem ich sein Versagen noch nicht verziehen habe. »Kennst du niemanden?«, frage ich ohne Hoffnung. Betty schüttelt den Kopf und schaut mich mit großen Augen ratlos und bittend an. Ich habe die Vermutung, dass die Trabi-Einreise-Verweigerung die Rache des Campingbeutels ist.

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