Herr Möslein ist tot (German Edition)
schwinge ich zur Musik der Star-Sisters meine Beine, straffe meinen jungen Körper vielleicht zum letzten Mal und zwinkere Jürgen durch seine Videokamera vielversprechend zu. Er soll uns heute noch zu einem Drink einladen.
Nachdem wir wieder umgezogen sind, löffle ich den Augenärzten das leckere Tiramisu vom Buffet weg, und Betty flirtet laut lachend mit den BLAM U-Jungs. Ich nutze Bettys Ablenkung, greife Jürgens Hand und schaue ihn mit meinem einstudierten Augenaufschlag an.
»Jürgen, wir haben große Lust, noch ein bisschen feiern zu gehen. Am Wittenbergplatz soll es tolle Bars geben. Fährst du mit uns dahin? Bitte, bitte!«
»Ich kenne dort keine Bar. Warum gehen wir nicht ins First? Das ist eine tolle Disco hier in der Nähe!« Statt zu sagen, dass ich das First 1990 als eine von ulkigen Mittelständlern, die Ostmädchen ihre Telefonnummer auf einen Hundert-MarkSchein schreiben, kennengelernt habe, drücke ich seine Hand und flüstere: »Aber dort arbeitet Carsten nicht! Lass uns zum Wittenbergplatz fahren, bitte!«
»Hast du ihn gefunden?«, flüstert Jürgen misstrauisch zurück. Um Zeit zu gewinnen, lecke ich genüsslich und so erotisch wie möglich meinen Tiramisulöffel ab. »Ähm, ja!«, stottere ich und locke ihn mit dem Löffel dichter an mich heran. Wir schieben die Köpfe zusammen, und ich hauche ganz leise: »Und sag Betty nichts. Ich will sie überraschen. Carsten ist auch ein Freund von ihr!« Jürgens Gesicht entspannt sich sofort zu einem Lächeln. Er fühlt sich, soweit ich seine Mimik entschlüsseln kann, sehr geehrt, ein Geheimnis mit mir teilen zu dürfen.
***
»Wir müssen uns beeilen. Es ist schon 23.30 Uhr. In anderthalb Stunden müssen wir am Grenzübergang sein!«, ruft Betty hechelnd hinter uns. Ich laufe im Stechschritt voran: von unserem Parkplatz am Straßenrand der Lietzenburger, Höhe Bayreuther Straße, auf einen mit Autos zugeparkten Platz zu. Jürgen schnauft in meinem Nacken. »Wo ungefähr ist jetzt das KDW ?«, frage ich und drehe mich zu Jürgen um.
Er weist ein wenig außer Puste nach links. Ich folge seinem Blick und bleibe an einem beleuchteten Schild mit der Aufschrift »Oldtimer« hängen. Das muss es sein. Carsten hatte mir mal erzählt, dass er sich, wenn er die U-Bahn am Wittenbergplatz verließ, links halten musste und sein Restaurant dann auf der rechten Seite lag. Aber hieß es Oldtimer? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht einmal, ob er mir den Namen des Lokals überhaupt gesagt hatte. Diese Vergesslichkeit im Alter ist erschreckend. Nur weil ich mir, seit ich die Vierzig überschritten habe, nichts mehr gut merken kann, vergeude ich so viel Zeit bei meiner Suche in der Vergangenheit.
»Okay, dann muss es hier sein. Schaut mal, in diesem Komplex gibt es einige Bars«, sage ich siegessicher und zeige auf das Oldtimerschild, ohne auch nur eine Sekunde stehen zu bleiben. Ich öffne die schwere Holztür. Vor mir liegt ein langer, schmaler Raum, im Altberliner Stil eingerichtet, an dessen Ende rechtsseitig ein langer Kneipentresen steht. Dahinter zapft ein schlanker Mann Mitte vierzig, mit grauen kurzen Haaren, ein Bier und schaut bei unserem Eintritt kurz auf. Das ist auf keinen Fall Carsten, aber vielleicht bedient er hier. Die vorderen Tische im Eingangsbereich sind alle besetzt, das laute Gemurmel zeugt von mittelschwerem Alkoholkonsum, Rauchschwaden hängen in der Luft. Aus den Boxen klingt Amanda Lears »Follow me«. Ich suche uns einen Tisch direkt gegenüber dem Tresen.
»Sag mal, Tati, bist du dir sicher, dass das hier das Westberliner Nachtleben sein soll?« Betty zündet sich enttäuscht eine Zigarette an. Jürgen zwinkert mir zu und versucht mit tonlosen Mundbewegungen rauszubekommen, ob ich Carsten bereits gesehen hätte. Ich schüttle den Kopf.
»Jürgen, kannst du uns zehn Mark borgen, wir geben sie dir nach unserer Honorarzahlung zurück?«, frage ich und freue mich über die erhoffte Antwort.
»Ich lade euch zu einem Drink ein!«
»Danke!«, sage ich höflich und strahle Jürgen an.
Betty dagegen schaut sich unzufrieden um. »Tati, ist dir schon aufgefallen, dass wir hier scheinbar die einzigen Frauen sind?«
»Ist doch toll, oder? So viele schöne Männer auf einem Haufen!« Die Jungs hier sehen wirklich ausgesprochen gut aus. Später wird man sie als metrosexuell bezeichnen, was nichts mit Geschlechtsverkehr in der U-Bahn zu tun hat, sondern sehr gepflegte, gewaschene und sorgfältig gekleidete Männer beschreibt. Betty studiert
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