Herr Möslein ist tot (German Edition)
aber, denn wenn Alu hier bliebe, wäre es ebenfalls mit dem Tanzen vorbei. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Nach dem Mauerfall wollte erst mal kein Mensch mehr sozialistische Kultur sehen und erst recht kein Geld dafür ausgeben. Weil ich nicht antworte, schwärmt Alu einfach weiter. »Ich könnte vielleicht sogar am Broadway tanzen, und ich kann von dem vielen Geld, das ich verdiene, auch etwas kaufen!«
»Isch wollte ouch nur meine Marlboro, meinen Golf und den Vidschorecorder«, sächsle ich.
»Natürlich. Und schicke Klamotten für die roten Teppiche, auf denen ich dann langstolziere!« Alu strahlt bei der Vorstellung von Ruhm und Reichtum.
»So einfach ist das aber nicht!« Ich würde meine Schwester gern vor großen Enttäuschungen bewahren. »Weißt du Alu«, sage ich darum, »so schnell wird man auch im Westen nicht reich. Dafür müsstest du deine Scheu vor stinkreichen Leuten ablegen, deren Nähe suchen, Kontakte knüpfen. Ohne Beziehungen geht gar nichts.«
»Ach, wie hier?«
»Fast. Wobei du hier Beziehungen haben musst, um Ersatzteile und Besonderes kaufen zu können, und drüben, um einen Job zu bekommen!«
»Aber ich kann doch was. So eine Ausbildung wie die, die ich an der Paluccaschule hatte, hat niemand im Westen!«
»Das stimmt, Aluchen, aber das reicht nicht, ist bei manchen Künstlern sogar völlig unwichtig. Sich bei den richtigen Leute beliebt zu machen, ist erfolgversprechender!«
Ich lehne meinen Kopf an die straßenstaubigen Fenster des Heidercafés, blinzle in die Sonne und muss an eine deutsche Schauspielerin denken, die zu ihrer Verlobung Ex-Kanzler Schröder und Familie Wulff und Herrn Westerwelle einlud. Mein Kumpel Ronny, dessen Humor mir bei meiner Reise in die Vergangenheit fehlt, weil ich ihn im Herbst ’ 89 leider noch nicht kenne, hatte prompt einen Witz auf Lager: »Frau F. muss ihren Verlobten wirklich sehr lieben! … Spielen kann sie es ja nicht!« Dafür kann sie netzwerken, denke ich.
Ich erkenne, dass mein Zukunftswissen weder mich noch meine Schwester charakterlich ändern kann, greife Alus Hand und flüstere ihr ins Ohr: »Ich wünsche dir alles Gute, liebe Schwester.« Alu küsst mich überschwänglich auf den Mund. Sie freut sich über meine als Absolution getarnte Resignation, ich schlucke den Kloß in meinem Hals. Dann gehen wir zurück ins Café. Während wir auf die Rechnung warten, fragt Alu: »Soll ich meinem Tanzpartner einen Tipp geben, dass du dich beruflich verändern und mit ihm tanzen willst?«
»Nein, um Gottes willen! Ich tanze mit Betty. Bis zum bitteren Ende!«
»Du meinst, bis die Schwerkraft an Hintern und Busen unübersehbare Kollateralschäden hinterlässt?«
»So ähnlich«, sage ich grinsend.
Weil ich weiß, dass meine Schwester nach Ungarnreise, Botschaftsaufenthalt und Auffanglager erst Anfang November in Westberlin eintreffen wird, bitte ich sie nicht darum, für mich nach Carsten zu suchen. Wir verabreden uns für den 4. November bei Tante Ev. Betty und ich werden am Tag der großen Berlinkundgebung bei einem Firmenfest in den Gebäuden der Trabrennbahn Mariendorf ganz in Tantchens Nähe tanzen. Zum Abschied ermahnt mich Alu eindringlich: »Bitte Tati, sag Heinzi nichts von meiner Ungarnreise, ja?«
Oma, so jung
Heute bringe ich Pauli – wie verabredet – zu meinen Eltern nach Erfurt. Mein fröhliches Kind ersetzt das nicht vorhandene Autoradio und singt die Lieder, die sie im Kindergarten gelernt hat. »Wenn Mutti früh zur Arbeit geht, dann bleibe ich zu Haus, ich bind mir eine Schürze um und feg die Stube aus!«, trällert es vom Rücksitz. Natürlich kann ich die gesungenen Worte nur erahnen, denn mein Trabi macht viel Lärm und ächzt schon bei 90 km/h auf der Autobahn. Pauli freut sich auf ihren Urlaub bei Oma und Opa, und ich freue mich auf unseren Mutter-und-Kind-Ausflug in meine Heimatstadt. Gerade passieren wir den Turm mit der Aufschrift: »Plaste und Elaste aus Schkopau«. Hinter der Brücke löst ein Wald die abgeernteten Getreidefelder und Grasflächen ab, die noch nichts von ihrem alternativlosen Schicksal als landschaftsverunstaltende Windradparks, Solarfelder oder Biodiesellieferanten ahnen.
»Mami?« Paulis weiche Händchen stupsen mich an der Schulter. Sie hat sich hingestellt, um mit ihrem Mund näher an mein Ohr zu kommen. »Warum kommt denn Papi nicht mit?«
»Papi will heute seinen Fiat reparieren«, antworte ich. »Und so haben wir beide viel Zeit miteinander, weißt du?«
»Der arme Fiat ist
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