Herr Möslein ist tot (German Edition)
kaufen, um mit ihnen zu »arbeiten«, bis er sie wieder reparieren kann.
»Ach hör auf zu lachen, Tati!«, sagt Mama. »Das regt mich so auf. Er hat schon oft etwas kaputt gemacht. Kürzlich hat er einen Film im Fotoapparat doppelt belichtet, und im letzten Urlaub hatte er gar keinen drin.«
»Ich weiß, Mama, aber du solltest dich daran gewöhnen. Er wird sich nicht ändern!«
Die Wohnung meiner Eltern ist fast genauso eingerichtet wie in der Zukunft. In meiner Jugend hasste ich die bei Haushaltsauflösungen erstandenen und auf Mülldeponien gesammelten alten Jugendstil-Möbel und Nippes, über die meine pubertierenden Freundinnen lästerten, weil sie moderne Hellerau-Schrankwände hatten, aber jetzt finde ich die Einrichtung toll.
Mit dem Umzug vom Johannesplatz, wo ich aufwuchs, zum Huttenplatz hatten sich meine Eltern endgültig von uns – ihren Kindern – abgenabelt. Statt unseres Kinderzimmers, erinnern jetzt Fotos an unsere Kindheit und Jugend. Ich bleibe im Flur vor einem Ballett-Bild meiner Schwester stehen. Sie trägt ein Tutu und Spitzenschuhe, steht auf einem Bein und hat das andere nach hinten ausgestreckt, so dass es fast ihren Hinterkopf berührt. Eine russische Ballettmeisterin hatte einmal gesagt: »Alexandra ist von ihren anatomischen Voraussetzungen her ein Jahrhunderttalent!«
»Lexi hat uns angerufen. Sie fährt in den Ferien nach Ungarn!«, ruft Mama zu meinen Gedanken passend aus der Küche.
»Ich weiß, Mama, ich habe sie getroffen.« Ich spreche den Satz mit einem Punkt, denn ich habe Angst vor Mamas Frage. Als wir im Wohnzimmer vom guten Geschirr die Schweinelende genießen, kommt die Frage trotzdem.
»Meinst du, sie kommt zurück?«
Ich sehe Mamas trauriges Gesicht und kann die Tränen, die das Mitgefühl in meine Augen spült, kaum zurückhalten.
»Mami, warum weinst du denn?« Pauli guckt ganz überrascht.
»Ich weine gar nicht. Ich habe nur etwas ins Auge bekommen!«, entgegne ich etwas zu laut, als mein Vater in die gute Stube poltert. »Jetzt ist das Büro-Telefon auch kaputt«, flucht er und rettet vorerst die Situation. Er begrüßt uns, beginnt sofort, heißhungrig zu essen, und bekleckert sich prompt mit der Soße. Alles wie immer.
»Na, Tati. Wie war’s in Westberlin? Lass mich raten: Wie hier. Für Westgeld bekommt man alles.« So ein staatsfeindlicher Witz wäre bei meinem Vater vor wenigen Jahren nicht möglich gewesen. Er hatte an die sozialistische Idee, eine egalitäre Gesellschaft, beruhend auf gemeinschaftlichem Eigentum mit gleichen Rechten für alle, geglaubt. Bis er mit der realsozialitischen Misswirtschaft nicht nur konfrontiert, sondern in einem neuen Job für alle stadtwirtschaftlichen Dienstleistungsbetriebe Erfurts verantwortlich war. Diese Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis führte bei ihm zu einem Schlaganfall mit 47.
Mit seiner glücklichen Genesung ging eine Wandlung in ihm vor. Plötzlich nahm er sein Land realistisch wahr und entwickelte eine Vorliebe für laute und öffentliche Schimpftiraden über Versorgungsengpässe und bestechliche Beamte, so dass ich manchmal Angst hatte, sie fangen ihn weg. Bevor ich auf Papas Witz reagieren kann, schaltet sich Mama, die Pauli gerade zu Professor Flimmrich vor den Fernseher gesetzt hat, in unser Gespräch ein.
»Tati, nun sag doch mal. Du weißt doch was von Lexis Plänen!«
»Ja, ich weiß es. Aber ich möchte, dass ihr euch keine Sorgen macht.«
»Also will sie über die Grenze«, versucht mein Vater einen sachlichen Tonfall.
»Dann sehen wir sie nie wieder!« Mama weint. Ich wusste es. Aber als ich diese Situation schon einmal erlebte, wusste ich noch nicht, dass diese Trennung unserer Familie nur von kurzer Dauer sein wird. Soll ich es ihnen sagen?
»Mama, bitte weine nicht. Es gibt keinen Grund! Die Grenze wird nicht mehr lange stehen.«
»Du willst mich doch nur beruhigen. Das glaube ich dir nicht. Woher willst du das wissen?«
»Ich weiß es eben«, brubbele ich hilflos.
Mein Vater ist der Einzige in unserer Familie, der wirklich politisch interessiert und informiert ist, soweit das eben möglich ist. Er schaut mich jetzt nachdenklich an. »Meinst du das ernst? Ich meine, natürlich werden die Demonstrationen und die Massenflucht irgendetwas bewirken. Ich glaube zwar nicht an einen Mauerrückbau, aber vielleicht an mehr Demokratie und Reisefreiheit.«
»Genau! Und darum, liebe Mama, wirst du dein anderes Kind bald treffen!«, greife ich Papas Interpretationsangebot dankbar
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