Herr Palomar
sich aus Erinnerung und Vorstellungsvermögen zusammensetzt, und allein auf dieser Grundlage könnte er eine Skala von Geschmäckern und Präferenzen, Kuriosem und Auszuschließendem aufstellen.
Hinter jedem Käse steckt eine Weide von anderem Grün unter anderem Himmel: salzige Marschwiesen als Produkt der allabendlichen normannischen Flut, duftende Bergwiesen unter der windreichen provencalischen Sonne; es gibt verschiedene Herden mit ihren Stallungen und Transhumanzen, es gibt geheime, durch die Jahrhunderte weitergereichte Rezepte. Dieser Laden ist ein Museum: Herr Palomar kommt sich vor wie im Louvre, hinter jedem Exponat spürt er die Präsenz der Kultur, die ihm Form gegeben hat und aus ihm Form bezieht.
Dieser Laden ist ein Wörterbuch: Die Sprache ist das System der Käsesorten in seiner Gesamtheit, eine Sprache, deren Morphologie eine Vielzahl verschiedenster Deklinationen und Konjugationen enthält und deren Wortschatz einen unerschöpflichen Reichtum an Synonymen, idiomatischen Wendungen, Konnotationen und Bedeutungsschattierungen aufweist – wie in allen Sprachen, die sich am Beitrag von hundert verschiedenen Dialekten nähren. Eine Sprache aus Dingen, die Nomenklatur ist nur äußerlich, instrumentell, doch ein bißchen Nomenklatur zu lernen bleibt für Herrn Palomar stets das erste, was es zu tun gilt, wenn er die vor seinen Augen vorbeifließenden Dinge einen Moment lang festhalten will.
Er zieht ein Notizbuch und einen Stift aus der Tasche, er beginnt, sich die Namen aufzuschreiben und neben jeden Namen eine charakteristische Eigenschaf zu notieren, die ihm später erlauben soll, sich an das Bild zu erinnern. Er versucht auch, eine grobe Skizze der jeweiligen Form zu zeichnen. Er schreibt Pavé d' Airvault und notiert dazu »grüne Schimmelpilze«, er zeichnet ein flaches Parallelepiped und vermerkt auf der einen Seite »ca. 4 cm«. Er schreibt St. Maure und notiert dazu »körniger grauer Zylinder mit einem Stöckchen darin«, er zeichnet den Käse und schätzt seine Höhe nach Augenmaß auf »ca. 20 cm«. Er schreibt Chabicholi und zeichnet einen kleinen Zylinder … »Monsieur! Houhou! Monsieur!« Eine junge rosagekleidete Käseverkäuferin reißt ihn aus seinen Notizen. Er ist an der Reihe, er muß sich äußern, alle in der Schlange hinter ihm beobachten schon sein unpassendes Verhalten, schütteln die Köpfe mit jener halb ungeduldigen, halb ironischen Miene, mit welcher die Großstädter heutzutage die wachsende Zahl der Schwachsinnigen in den Straßen betrachten.
Der erlesene Feinschmeckerwunsch, den er vortragen wollte, ist ihm entfallen, er stammelt und zieht sich auf das Gängigste, das Banalste, das Produkt mit der größten Werbung zurück – als hätten die Automatismen der Massenzivilisation nur auf diesen Moment seiner Unsicherheit gewartet, um ihn wieder in ihre Gewalt zu bringen.
Marmor und Blut
Die Reflexionen, zu denen der Metzgerladen den wartenden Kunden anregt, betreffen Kenntnisse, die über Jahrhunderte in verschiedenen Wissenszweigen tradiert worden sind: die Kompetenz in Sachen Fleisch und seiner Zerteilung, die jeweils optimale Zubereitung der Stücke, die Riten zur Besänftigung der Gewissensbisse über die Tötung anderer Leben zur Erhaltung des eigenen. Die Weisheit des Metzgerns und die der schmackhaften Zubereitung gehören zu den exakten Wissenschaften, die sich durch Experimente verifizieren lassen, unter Berücksichtigung der von Land zu Land wechselnden Gebräuche und Techniken; die Weisheit des Opferns dagegen ist von Ungewißheit überschattet und zudem seit Jahrhunderten in Vergessenheit geraten, aber sie lastet auf unserem Bewußtsein dunkel, als unausgedrückte Forderung. Eine ehrfürchtige Andacht vor allem, was mit dem Fleisch zu tun hat, leitet Herrn Palomar, der sich anschickt, drei Beefsteaks zu kaufen. Zwischen den Marmorwänden der Metzgerei verharrt er wie in einem Tempel, im Bewußtsein, daß seine individuelle Existenz und die der Kultur, der er angehört, von diesem Ort bedingt sind.
Die Schlange der Kunden bewegt sich langsam an dem hohen Marmortresen vorbei, an den Konsolen und Regalen, auf denen die Fleischstücke sich aneinanderreihen, jedes mit einem hineingesteckten Namens- und Preisschild. Dem lebhaften Rot des Rindfleischs folgt das zarte Rosa des Kalbfleischs, das Hellrot des Lammfleischs und das dunklere Rot des Schweinernen. Purpurn leuchten mächtige Rumpsteaks neben kreisrunden Tournedos von der gefutterten
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