Herr Palomar
weiß: Wenn er nur noch ein paar Minuten in diesem Laden verbringt, wird er am Ende davon überzeugt sein, daß er hier der Profane, der Fremde, der Ausgeschlossene ist.
Das Käsemuseum
Herr Palomar steht Schlange in einem Pariser Käseladen. Er will einen bestimmten Ziegenkäse kaufen, den es hier, in Öl eingelegt und mit verschiedenen Kräutern gewürzt, in kleinen durchsichtigen Behältern gibt. Die Schlange bewegt sich langsam an einem Tresen vorbei, auf dem Exemplare der ungewöhnlichsten und verschiedenartigsten Spezialitäten ausgestellt sind. Der Laden hat offenbar den Ehrgeiz, mit seinem Sortiment alle nur irgend denkbaren Formen von Milchprodukten zu dokumentieren. Schon das Schild »Spécialités froumagères«, mit diesem seltenen, archaischen oder mundartlichen Adjektiv, weist daraufhin, daß hier die Erbschaf eines Wissens gehütet wird, das eine Kultur durch ihre ganze Geschichte und Geographie hindurch akkumuliert hat.
Drei oder vier junge Verkäuferinnen in rosa Schürzen bedienen die Kunden. Kaum ist eine frei, wendet sie sich dem vordersten in der Schlange zu und bittet ihn, seine Wünsche zu äußern. Der Kunde nennt, oder zeigt noch öfter, indem er sich durch den Laden bewegt, das Objekt seiner präzisen und kennerischen Gelüste.
Im gleichen Augenblick rückt die Schlange einen Schritt vor, und wer bis dahin neben dem Bleu d' Auvergne gestanden hat, der von grünen Adern durchzogen wird, findet sich nun auf der Höhe des Brin d' amour, in dessen weißlicher Masse winzige gelbe Strohfädchen kleben; wer eine in Blättchen gehüllte Kugel betrachtet hat, kann sich jetzt auf einen mit Asche bestreuten Würfel konzentrieren. Manche ziehen aus diesen Zufallsbegegnungen Inspirationen für neue Reize und Wünsche, ändern die Meinung über das, was sie verlangen wollten, oder ergänzen die Liste um neue Posten. Andere lassen sich keinen Moment lang von ihrem einmal gesetzten Ziel abbringen, und jede weitere Anregung dient ihnen bloß dazu, durch Ausgrenzung den Bereich des hartnäckig Angestrebten zu reduzieren.
Herrn Palomars Seele schwankt zwischen zwei entgegengesetzten Bestrebungen: einerseits dem Drang nach einer vollständigen und erschöpfenden Kenntnis, der sich indes nur befriedigen ließe, wenn er von allem hier kosten würde; andererseits dem Verlangen nach einer absolut freien Wahl, nach Identifizierung der einzigen ihm gemäßen Käsesorte, die sicherlich existiert, auch wenn er sie noch nicht zu erkennen (sich in ihr zu erkennen) vermag.
Oder nein, oder nein: Es geht gar nicht darum, den eigenen Käse zu wählen, sondern gewählt zu werden. Es gibt ein Wechselverhältnis zwischen Käse und Kunde: Jeder Käse wartet auf seinen Kunden und bemüht sich auf seine Weise, ihn anzuziehen und zu reizen, sei's durch eine etwas hochmütigreservierte Steifheit oder Kernigkeit, sei's durch ein hingebungsvolles Zerfließen.
Ein Ruch von lasziver Komplizenschaf liegt in der Luft: Die geschmackliche und vor allem geruchliche Raffinesse hat ihre Erschlaffungsmomente, in denen sie sich gemein macht, wenn die Käsesorten in ihren Schalen sich darbieten wie in den Lustpolstern eines Bordells. Ein perverses Grinsen durchzieht das Vergnügen, die Objekte der eigenen Freßlust mit anzüglichen Schmähnamen zu benennen: crottin, boule de moine, bouton de culotte …
Nicht dies ist die Art von Kenntnis, die es Herrn Palomar sehr zu vertiefen drängt, ihm würde es genügen, die Einfachheit eines direkten physischen Verhältnisses zwischen Mensch und Käse zu realisieren. Doch wenn er anstelle der Käsesorten nur Käsenamen sieht, Käsebegriffe, Käsebedeutungen, Käsegeschichten, Käsekontexte, Käsepsychologien, wenn er – mehr als zu wissen – erspürt, daß hinter jedem Käse all dies und vielleicht noch mehr steckt, dann wird sein Verhältnis zum Käse sehr kompliziert. Der Käseladen erscheint Herrn Palomar wie eine Enzyklopädie für Autodidakten. Er könnte sämtliche Namen auswendig lernen, er könnte eine Klassifizierung versuchen, nach den äußeren Formen (als Seifenstück, als Zylinder, als Kuppel, als Ball), nach der inneren Konsistenz (trocken, butterweich, sämig, geädert, kompakt), nach dem involviertem Fremdmaterial (Rosinen, Pfeffer, Nüsse, Sesam, Kräuter, Schimmelpilze) usw. aber das alles würde ihn keinen Schritt näher zur wahren Erkenntnis bringen, die nur zu erreichen ist, wenn man die Aromen der Reihe nach ausprobiert, also durch die konkrete Erfahrung, die
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