Herr Tourette und ich
muss.«
»Den Termin musst du wohl absagen«, sagt der eine von ihnen.
Sie lächeln. Ich nicht.
Sie wiegen die Tabletten auf einer kleinen Waage, schreiben Zahlen auf, legen alle meine Besitztümer in durchsichtige kleine Plastiktüten. Das Odinzeug will mich nicht loslassen, es hält Ohren und Augen und Nase unter Kontrolle, die Zwangsgedanken kommen nicht ran, die Rituale auch nicht, jedenfalls nicht, so wie sie es sich wünschen, der Nebel breitet sich aus.
Ein neues Zimmer. Es erinnert an ein Sprechzimmer. Eine dritte Person kommt rein, eine Frau, sie erinnert an eine Kassiererin, ist aber offensichtlich eine Art Krankenschwester. Sie grüßt nicht, sieht mich an, als wäre ich einer von zwanzig Kunden in der Kassenschlange. Sie bittet mich, noch ein Papier zu unterschreiben, was ich auch mache – so fühlt sich der Nachtzug näher an. Ehe ich noch denken oder fragen oder zwangshandeln kann, nimmt sie meinen rechten Zeigefinger und ritzt ihn mit einem kleinen Messer ein. Das Blut rinnt elegant in eine Art Reagenzglas. Danach gibt sie mir eine Plastikdose, eine speziell für männliche Urinproben entworfene Plastikdose. Ich muss nicht pinkeln, habe es seit Wochen nicht getan, aber ich schaffe es doch, mir ein paar Tropfen in die Plastikdose abzuringen. Ich gebe die Plastikdose mit den Tropfen drin ab. Die Frau verschwindet mit der Blutprobe und der Urinprobe, und ich sehe sie nie wieder. Die beiden Männer sind die ganze Zeit damit beschäftigt, Papiere auszufüllen, zu messen und Telefongespräche zu führen. Ich sitze auf einem kleinen Drehstuhl, halte ein Pflaster über den Zeigefinger, die Hose sitzt nach wie vor an den Knöcheln, und der Mantel hängt gerade herunter. Dann ist es, als würde ich einschlafen. Die Szene stirbt aus.
Ich bin in eine Art Wartezimmer verfrachtet worden. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, wo ich mich befinde – im Hauptbahnhof oder der Polizeiwache oder der Zollstation? Es kommt mir alles wie ein schlechter, auf eine Odin-Story gegründeter Traum vor. Doch, bestimmt bin ich in ein Wartezimmer gebracht worden, und dann in einen Verhörraum, damit ich schließlich auf den Elektrischen Stuhl gesetzt werde.
Die Szene ist mir unbehaglich, verwirrt mich, ich schäme mich mehr, als dass ich Angst hätte. Ich schäme mich vor meiner Familie, die immer noch nicht weiß, was los ist, die sicher darauf wartet, dass ich anrufe und alles erkläre. Ich schäme mich, weil sie so einen Superidioten zum Sohn und Bruder haben müssen.
Ich sitze allein auf dem Rücksitz. Die beiden Männer sitzen da vorne, der mit dem Hund fährt das Auto. »Die werden jetzt die Daten checken«, sagt der eine. »Du weißt schon, von deinem Papa und dem Herzmittel«, lächelt er.
Ich erkenne die Gebäude nicht wieder, die Straßen nicht und die Straßenbahnen auch nicht. In meinem Kopf herrscht Nebel, und draußen regnet es.
Sie können mich nicht verhören, weil die Proben Chemikalien im Blut nachweisen. Sie müssen warten, bis die Chemikalien raus sind, ich muss in einem anderen Zimmer darauf warten, in einem größeren Haus, mindestens zwölf Stunden lang. Ich werde den Nachtzug nicht schaffen. Meine Interrailkarte ist jetzt nur noch vierundzwanzig Stunden gültig. Und was soll ich Platen draußen auf dem Hof sagen?
Ich werde einen Flur entlanggeführt, er ist nicht sonderlich lang, erinnert an den Flur in einer Turnhalle – in der Mitte ein gelber Streifen, rote Ränder an den Kanten.
Sie führen mich in einen kleineren Raum. Ein neuer Mann, etwas älter, mit gestutztem Bart, überreicht mir ein Bündel Kleider, dunkelblaue Kleider – Pullover, Hose, Strümpfe, Latschen und eine Menge Handtücher. Die Tür zum Raum steht offen, und dem Gott im Himmel, wenn es ihn da gibt, sei Dank, dass es in den Raum hinein keine Türschwelle gibt. Sie klappen ein Bett herunter, das an der Wand festgemacht ist, und so ist das hier wahrscheinlich der Ort, an dem ich warten soll, bis die Chemikalien raus sind. Sie bitten mich, meine Kleider auszuziehen, ich weigere mich, aber sie sagen, ich hätte keine andere Wahl. Ich tue es trotzdem nicht, ich will jetzt nicht mit Zwangshandlungen anfangen, nicht jetzt, da die Muskeln schlafen und das Gehirn eine Auszeit hat, jetzt, wo ich weiß, dass es mindestens noch einen gibt, der so ein Gehirn hat wie ich.
Ich bin erstaunt, wie still es hier ist. Ich höre nur den Ventilator an der Decke und das Rascheln der Zeitung des Wachmanns. Einzelne Autos kann ich hupen
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