Herr Tourette und ich
bewegen.
Später erfahre ich, dass Duke natürlich nie Korrespondent in London war und dass er wahrscheinlich auch niemals Shirley Bassey auf die Wange geküsst hat.
Das Fax
Ich bin noch nicht lange hier. Es fühlt sich an wie ein Jahr, aber in Wirklichkeit handelt es sich um einige Tage. Die Zwänge haben die neuen Routinen ganz klar in die Klammer genommen, und die Rituale nehmen immer größeren Raum in meinem neuen Alltag ein. Und ich verspüre wieder diese Unruhe, die sich in meinen Kopf nagt und meine Stimmung wegfrisst. Den Professor kann ich gleich vergessen, der wird sich doch nicht um mich scheren, was ich auch verstehen kann. Ein Professor sollte doch genug zu tun haben. Hör jetzt auf zu hoffen und so zu tun, als hättest du was am Laufen, so einfach ist es nicht, je niedriger die Erwartungen, desto kleiner die Enttäuschungen. Ich entscheide mich dafür, die Hoffnung auf professionelle Hilfe abzuschalten, es wird doch nichts dergleichen geben. Wenn es Hilfe gäbe, dann wäre ich schon seit langem gesund. Vielleicht hatte er doch Recht, dieser Doktor Brezel – paranoide Persönlichkeitsstörung. Vielleicht bin ich ja doch ein Verrückter. Also meckere nicht. Sei froh, dass du nicht in irgendein Irrenhaus eingesperrt worden bist. Meckere nicht, gehe weiter. Arbeite weiter auf dem Hof, schneide Fischköpfe ab, lebe wie und wo auch immer, aber lebe nicht mit falschen Hoffnungen. Vergiss das ganze Professorengerede und die Hilfe und den Teufel und seine Großmutter. Es war sicher alles nur ein Scherz, warum hätten sie sonst über derart ernste Dinge lachen sollen? Vergiss es, denk nicht so viel, denk lieber dran, auf dich selbst aufzupassen. Bisher ist es doch ganz gut gelaufen, ich meine, es hätte doch viel schlechter sein können. Gut – Zucken im Bauch .
Ich merke, dass ich traurig bin, aber ich kriege keine richtigen Tränen zustande. Lieber weiterkämpfen, die Schnauze halten und die Zähne zusammenbeißen. Die Zähne zusammenbeißen, die jetzt anfangen so richtig zu ziehen und zu pieken und zu pochen. Ich glaube nicht länger an meine Theorie, dass da ein Zahn außer Funktion ist, es scheint sich um mehrere Zähne zu handeln, die ganze rechte Seite tut entsetzlich weh. Manchmal muss ich mit der Hand an die Wand oder auf den Tisch schlagen, um den Schmerz loszuwerden. Nachts schlafe ich ungefähr fünf Stunden lang stabil. Ich glaube, ich würde viel träumen. Ich erinnere mich nicht, was ich träume, sondern nur, dass ich träume. Gegen zehn Uhr abends fange ich an, mich auf das Zubettgehen vorzubereiten, aber natürlich habe ich Schwierigkeiten einzuschlafen. Erstaunlicherweise entdecke ich die Methode neu, die ich angewandt habe, als ich jünger war, zu Hause im Dorf: Ich mache eine visuelle Wanderung durch das ganze Cockpit einer Boeing 747, Instrument für Instrument, Lautsprecher für Lautsprecher, Hebel für Hebel. Ich schlafe fast immer ein, noch ehe ich in das Herz des Cockpits vordringe, den Steuerknüppel. Genau wie damals, als ich elf Jahre alt war. Und mir fehlt das Radio. Dieses ruhige und feine und ungefährliche Geräusch im Hintergrund, das vermisse ich. Und ich vermisse Mamas sanfte Hände, vermisse ihre massierenden und unbegreiflich sicheren Hände. Und ich vermisse es, schlafen zu dürfen. Ich würde so gern einhundertfünfzig Stunden nonstop schlafen. Dann würde alles so viel besser werden. Alles.
Es kann ein Dienstag sein. Dienstage sind immer gute Tage, also beschließe ich, dass es ein Dienstag ist. Einer der Hotelwachleute kommt mit einem Fax. Für mich. Es liegt in einem Umschlag, ein Umschlag, der geöffnet und gelesen und vom Gesetz selbst beurteilt wurde. Ich gehe davon aus, dass es sich um noch ein Formular handelt, das ich ausfüllen soll. Außerdem habe ich den Bescheid erhalten, dass ich das Hotel in Kürze werde verlassen dürfen. Also lasse ich den Umschlag ungeöffnet fünf Stunden lang auf dem Bett liegen, ehe ich zur Tat schreite.
Und dieser Dienstag ist es, der alles umkehrt, der Zufall übernimmt mein Leben, ein abwärtszeigender Trend wird in einen zufälligen Erfolg verwandelt.
Als ich den weißen A4-Bogen herausziehe, stelle ich fest, dass eine Menge Stempel darauf sind, sowohl von Absender wie von Empfänger. Ich lese das Fax, und es ist auf Schwedisch geschrieben:
»Ich werde in der nächsten Woche im Hotel Bristol auf einer Konferenz sein. Im Bibliothekssaal.
Fragen Sie an der Rezeption nach mir.
Per Mindus
Prof. KS «
Zucken im
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