Herr Tourette und ich
schlafen. Ich liege da und denke an das, was sie im Studio gesagt haben. Und wieder. Und wieder und wieder und wieder.
Stunden später. Auf dem Bett.
Ich denke, dass ich ein erwachsener Mann bin, meine Familie braucht nicht, muss nicht, will nicht die Details von meinem traurigen Alltag erfahren. Ich weiß ja nicht, wie ihr Alltag aussieht, denn sie stören mich nicht, indem sie mir lange Briefe mit Details aus ihrem Leben schicken. Warum sollte ich also ihren Alltag mit meinen Sorgen belasten? Ich bin immer noch ziemlich überzeugt, dass ich bald wieder auf dem Hof in Värmland sein werde, dass ich vielleicht in einer Woche dort am See stehe und Fischköpfe abschneide, während meine Finger sich zu den Eingeweiden vorgrabbeln. Und dann werde ich schon bald nach Göteborg ziehen. Bald werde ich hören, dass alles ein Missverständnis ist, der Doktor von Papa hat sich gemeldet, das mit dem Herzmittel in der Tasche stimmt, alles klärt sich.
Meine Kollegen erzählen, dass wir in einem Staatsflur übernachten, in einem Staatshotel, und dass an den meisten von ihnen ohnehin gerade ein Justizmord verübt wird. Auf meinem Flur sind wir zu acht. Ich scheine der Jüngste zu sein. Ich weiß nicht, was die anderen hier machen, und sie scheinen es selbst auch nicht zu wissen. Einer meiner Kollegen wird Duke genannt. Er, der Gottvater des Hotels. Alles, was er tut, wird als richtig anerkannt, was er sagt, ist Tatsache, alles, was er isst, ist gut, alles, was er trinkt, schmeckt nach Katzenpisse. Er liest und spielt derweil Musik von seinem eigenen Kassettenrecorder – Duke Ellington, Chet Baker, Nina Simone. Er behauptet, während seiner Zeit als Korrespondent in London Shirley Bassey auf die Wange geküsst zu haben. Jetzt ist er um die sechzig Jahre, hat einen grauen markanten Bart und viele lockige Haare, trägt grüne Hosenträger, redet langsam und tief, sicher und schön. Es umgibt ihn eine unsichtbare Atmosphäre des Respekts, die ihm folgt, wenn er geht, wenn er redet oder lacht oder still ist.
Ich sitze allein im Flur, der Fernsehapparat im Hintergrund läuft, aber der Ton ist ausgeschaltet. Ich lese in »Peer Gynt«, muss aber wieder von vorn anfangen, und wieder von vorn, vier Mal für jedes Erscheinen der Buchstaben x, z, y oder e. Dann versuche ich stattdessen weiter in »Hellys Reparaturhandbuch für den Chrysler 300C« zu lesen. Aber auch dort finde ich massenhaft unangenehme Buchstaben. Also stehe ich auf, wandere herum und versuche, den Peer-Gynt-Monolog auswendig zu lernen, den Teil, den ich in der Theaterschule vorgesprochen habe, denn vielleicht muss ich ihn im Januar noch einmal vortragen. Aber ich bleibe wieder in einem Ritual oder einem Zwang stecken. Ich lege die Beine auf den Tisch, kühle den Körper aus, lege noch ein kleines Geräusch drauf – brrrrr wie eine Boeing 747. Und plötzlich steht er da. Duke. Direkt vor mir. Und er sieht mich ernst an. Ich bleibe still sitzen, ich bin immer noch erstaunt, fühle mich dumm und kindisch und verwirrt. Und da schreitet Duke auf mich zu und bleibt wenige Zentimeter vor meinem Gesicht stehen. Er sieht mich lange an, es fühlt sich an wie ein halbes Jahr. Und ich schaffe es nicht einmal, Angst zu kriegen, und ich schaffe es auch nicht, einen wegerklärenden Witz zu machen, da legt Duke schon seine Hand steinhart auf meine Schulter, sieht mir direkt in die Augen und sagt, was noch niemand vorher gesagt hat. »Verdammt noch mal, was machst du denn da, Junge?«
An die Pause kann ich mich nicht erinnern, sondern nur an die Stille, die Augen von Duke, seinen Atem, seine Hand, die immer noch auf meiner Schulter liegt. Er gibt nicht nach, er kümmert sich, jetzt antworte schon, du entkommst mir nicht, Junge, jetzt kannst du nicht fliehen, Junge. Ich kann nicht fliehen, ich sitze fest und die Entschuldigungen und die Witze sind mir ausgegangen, und es zuckt im Bauch und ich glaube, ich breche jetzt zusammen – was mache ich, was ist das für ein Leben?
»Zwangsgedanken … es geschieht einfach«, murmele ich.
Langes Schweigen. Dukes Hand liegt noch da, seine Augen schauen in meine. Dann nimmt er die Hand weg und flüstert:
»Das wird schon vorübergehen, sollst mal sehn.«
Ich bleibe sitzen. Ich wage nicht, mich zu bewegen, habe Angst, in einem lebenslangen Ritual festzustecken. Ich starre auf den Türrahmen neben dem Fernseher, suche nach blauen Punkten, blaue Punkte, blaue Punkte. Ich sitze einfach da und wünschte, ich müsste mich nie wieder
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