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Herr Tourette und ich

Herr Tourette und ich

Titel: Herr Tourette und ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pelle Sandstrak
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Kleider holen. Aber ich wage nicht, eine dieser Möglichkeiten wirklich in Betracht zu ziehen. Meine Zwangsgedanken sind inzwischen derart instabil und eigensinnig, dass ich überall und jederzeit steckenbleiben kann. Außerdem glaubt meine Familie, ich befände mich in Göteborg, da ist es wohl besser, wenn ich versuche, so schnell wie möglich wieder nach Värmland und auf den Hof zurückzukommen. Ich habe genügend Geld, um den Nachtzug zur Grenze zu nehmen, und dann kann ich bis Värmland trampen, und dann auf dem Hof weiterarbeiten. Der Gedanke daran verbessert meine Stimmung ein wenig. Ich meine, eine gewisse Erleichterung zu verspüren. Aber ich bin besorgt und fühle mich müde und erschöpft, eigentlich sollte ich mich auf das Sofa legen und ein wenig ausruhen.

    »Hier sitzen Sie also.«

    Ein großer Mann, ein richtig großer Mann steht ein paar Meter von mir entfernt. Er hat nicht unbedingt viele Haare auf dem Kopf, trägt aber einen kleinen, dünnen Schnurrbart, etwas, was wie ein Anzug aussieht und Lederschuhe. Die Schuhe sind extrem italienisch, extrem stylish, extrem teuer. Er steht ein wenig vorgebeugt, dann kommt er schwankend und schlaksig, aber doch elegant und geschmeidig zu mir. Ich denke sofort, er sieht aus wie, nein, er sieht nicht aus wie ein Erweckungsprediger, er sieht aus wie John Cleese. Er reicht mir die Hand, ich halte ihm meine hin, und ehe ich noch darüber nachdenken kann, ob er sich gewaschen hat oder nicht, ergreift er meine Hand und schüttelt sie mehrere Male. Ich komme völlig von der Spur und vergesse, mich vorzustellen. Er sieht mich an, ganz lange, und dann sagt er:

    »Per. Per Mindus.«

    Langes Schweigen.

    »Danke für den Brief. Ich hoffe, ich störe nicht«, fährt er fort.

    Ich bringe kein Wort heraus, ich habe nichts zu sagen oder hinzuzufügen. Macht der Witze? Ist das Per Mindus, oder ist es John Cleese, oder ist er nicht doch einer von den Zeugen Jehovas? Vielleicht habe ich mich verhört.

    »Was?«, frage ich.

    »Sie haben mir einen sehr langen Brief geschrieben. Ich nehme jedenfalls mal an, dass Sie die Person sind, die den Brief geschrieben hat. Ich habe Sie hier sitzen sehen, und da habe ich mal angenommen, dass Sie es sind.«

    »Doch«, antworte ich.

    »Was für ein Glück, dass Sie mein Fax bekommen haben.«

    »Doch«, antworte ich.

    Er setzt sich in einen Lederstuhl direkt mir gegenüber. Ich merke, dass er mich anschaut, mein Verhalten beobachtet, das Fingerschnipsen, die fettigen Haare, die Kleider. Ich habe keine Ahnung, was ich sagen oder fragen könnte. Nach fünf Minuten, vielleicht sind es auch zehn, sagt er, als handele es sich um die kleinste Kleinigkeit:

    »Sie haben Tourette-Syndrom. Und Sie haben ein Zwangssyndrom. Und Sie sollten nicht hier sein. Sie brauchen Hilfe.«

    Der Körper fühlt sich steif an, die Gedanken wirken falsch, als hätten sie aufgehört zu funktionieren. Mindus nimmt einen kleinen Block aus der Innentasche des Jacketts. Er sieht mich an und schreibt etwas auf. Dann zeigt er mir, was er soeben geschrieben hat: »97 %«.

    Mindus fährt fort:

    »Ich schreibe, dass Sie zu siebenundneunzig Prozent schwerbehindert sind. Dann haben wir eine Zahl, von der wir ausgehen können. Was meinen Sie dazu?«

    Ich sage nichts, bin nicht imstande, klar zu denken. Tourette? Gedanken sausen durch meinen Kopf. Tourette. Bilder schießen vor mir hoch, Erinnerungen klopfen in meinem Kopf an. Tourette. Ja, genau. Papa, denke ich. Papa. Vor vielen Jahren hat er darüber gelesen, hat diesem Arzt in Trondheim, der behauptet hat, Tourette gäbe es in diesem Land nicht, den Artikel gezeigt. Ich will zu Hause anrufen, bei Mama und Papa, die Wahrheit erzählen – das gibt es, mich gibt es, und es wird mich auch weiter geben.

    Aber ich schaffe es nicht. Im Moment gerade nicht.

    »Ich habe es ein wenig eilig, mein Flug geht in einer knappen Stunde«, sagt Mindus.

    Er redet weiter, während er in seiner Ledermappe herumwühlt:

    »Können Sie nach Stockholm kommen?«

    »Doch«, antworte ich, fühle mich aber nicht ehrlich.

    »Schon nächste Woche?«

    »Doch«, antworte ich, und fühle mich ehrlicher.

    Er gibt mir eine Visitenkarte. Ich glaube, sie ist schwarz und weiß. Sein Name, Titel, seine Adresse und Telefonnummer füllen die ganze Karte aus.

    »Rufen Sie mich an, wenn Sie in der Stadt sind«, sagt er.

    Und ich rechne eiskalt aus, dass mit der Stadt Stockholm gemeint ist.

    Dann bittet er mich, ein Papier auszufüllen, das er in

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