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Herr Tourette und ich

Herr Tourette und ich

Titel: Herr Tourette und ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pelle Sandstrak
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ich ins Krankenhaus, und da gibt es überall Bazillen und Geräusche, und dann werde ich stattdessen davon verrückt. Also behalte ich die Gedanken für mich. Das ist das Beste. Vielleicht geht es ja vorüber. Bestimmt geht es vorüber.

Mein Paradies

    In Mosjøen gibt es keinen Schneematsch und keinen Regen, keine Köcherfliegen und keine Fischpuddingärsche und erst recht keine mich bedrängenden Gruppen. In Mosjøen wohnen meine Großeltern, und da wohnen Menschen, denen es egal ist, da darf ich einfach nur sein. Kann sein, dass Mama und Papa merken, dass es mir nach ein paar Tagen da oben besser geht, und so reisen Papa und ich immer öfter nach Mosjøen, manchmal sogar zweimal im Halbjahr. Mit dem Zug. Der Nordlandbahn. Schon die Reise selbst gibt mir den ersten Energieschub. Vom Dorf wegzufahren, auf dem Weg an einen Ort zu sein, wo ich niemanden kenne und auf niemanden Rücksicht nehmen muss. Wir gehen in den Speisewagen, reden über nichts, schauen aus dem Fenster, essen etwas und nehmen noch eine Tasse Kaffee und ein Sprite mit Eiswürfeln drin. Drei Stunden später steigen wir aus dem Zug. Mosjøen liegt vor mir – zwischen zwei gigantischen Bergen in einen Fjord eingebettet, es riecht nach Aluminium und Fisch und Fabrik und Diesel – kurz gesagt: ein Paradies. Jeden Tag liegen Hunderte von Fischerbooten unten in dem großen Hafen. Da wuselt es nur so von Menschen, und es ist, als würde dieses Wuseln den Druck und den Zwang aus meinem Kopf nehmen. Die Umgebung und die Gerüche, die Menschen und das Städtchen, das alles ist so weit weg vom Dorf, wie man nur kommen kann, als befände ich mich in einem anderen Land, auf einem anderen Erdteil. Alles ist anders, bis auf den Regen und die Grießbreiwolken. Ich stehe am Hafen und sehe die großen Walfängerboote achtern voraus hineingleiten. Die Hafenarbeiter rufen und schreien, rauchen und furzen. Mein Kopf ruht aus, die guten Gedanken erwachen, und ich glaube, ich sehe besser aus, und ich glaube, Papa meint dasselbe. Papa bestellt sich ein Bier im Hotel Lyngengården und liest die Hauptstadtzeitungen. Ich spiele Backgammon oder Flipper, immer wieder. Vielleicht gibt es hier keine Regeln. Alles ist frei und lustig und motivierend. Mosjøen.

    Großmutter und Großvater wohnen ganz nah am Hafen, der wiederum nur einen Steinwurf weit vom Aluminiumwerk entfernt ist. Nur hundert Meter von ihrem Haus fährt die Nordlandbahn. Ich kann am Fenster, im Garten oder auf dem Zaun sitzen und auf den Zug warten. Einmal am Tag geht einer nach Norden und einer nach Süden, dazu noch eine Menge Güterzüge, bei denen man unmöglich den Überblick behalten kann. Ich halte nach den Zügen Ausschau und denke, dass es immer noch mindestens fünfzig Stunden sind, bis Papa und ich den Zug nach Süden, zurück ins Dorf nehmen. Papa sieht, dass es mir besser geht, und wir bleiben dann oft noch einen Tag länger. Vor allem im Sommer oder um Weihnachten herum. Tagsüber gehen wir ins Stadtzentrum. Wir sehen all diese schrägen Typen – Frauen mit zu viel Schminke im Gesicht, Männer mit Perücken, schreiende Taxifahrer, Katzen und Hunde Seite an Seite, Flohmärkte, Würstchen mit Brot, Brot mit Kartoffelbrei, Kartoffelbrei mit Haferbrei, Haferbrei mit Grießbrei. Wir sitzen in Cafés, lesen Zeitungen, reden über alles und nichts. Wir nehmen Großvaters Boot und angeln ein wenig Dorsch, ein wenig Köhler, und sogar eine feiste Flunder ziehen wir raus. Lachse kann man hier nur zu einer bestimmten Zeit angeln, aber Fische gibt es immer in Mosjøen. Lachsangeln könnte ja Spaß machen, vor allem wenn die Lachse mal von sich hören ließen, ehe fünfzehn Stunden um sind. Aber wenn man in einem Lachsboot sitzt, mit Lachsködern und Lachsklamotten, ja, dann weiß man doch, was da anbeißt, das ist – ein Lachs. In Mosjøen weiß man nicht, was man an den Haken bekommt – Lachs, Dorsch, Aal, Köhler, kleine Wale, vielleicht einen Tigerhai. Es geht das Gerücht, dass Großvaters Fischerkollege Nikolaisen vor langer Zeit einmal einen Pinguin an den Haken bekam, einen lebendigen Pinguin. Der Haken war ins rechte Bein gegangen, und natürlich hatte der Pinguin nun ernsthafte Probleme, sich normal fortzubewegen. Nikolaisen kümmerte sich um ihn, pflegte ihn, und sie wurden Freunde. Enge Freunde. Nikolaisen nahm den Pinguin und zog in die Hauptstadt. Dort lief er mit dem hinkenden Pinguin an der Leine durch die Straßen. Er brachte dem Pinguin bei, zu hüpfen, zu jodeln und auf einem Bein zu

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