Herr Tourette und ich
Oben in der Küche höre ich Mama und Papa diskutieren. Papa ist offenkundig wütend, Mama scheint nicht wütend zu sein, eher erstaunt. Ich muss dringend aufs Klo, gehe die Treppe rauf, setze mich aufs Klo, aber nichts geschieht. Timeout. Mama und Papa hören mich nicht. Sie reden eifrig:
»Dieser Chefarzt behauptet, unser Sohn habe klare Anzeichen einer paranoiden Persönlichkeitsstörung. Also, da komme ich und zeige ihm alle Symptome und Diagnosekriterien, zeige ihm den Brief und den Zeitungsartikel, ich erzähle ihm sogar vom Tagebuch, von der Entwicklung, ich bitte um eine Überweisung in eine neurologische Abteilung, aber dieser Mann schüttelt nur den Kopf, sagt, er sei der Arzt, wir die Eltern, und nun wollen wir mal nicht emotional werden. Er sagt, es gäbe einhundertzwölf diagnostizierte Fälle in der ganzen Welt, und es sei ein exzentrisches und sehr ungewöhnliches Syndrom, nur wenige hätten das …«
»Und was hat er gesagt, als du Tourette und Zwang gesagt hast?«, fragt Mama.
»Da hat er nur geantwortet: ›Tourette? Nein das haben wir hier nicht.‹ Er meint, es sei etwas viel Ernsteres. Ein Junge, der glaubt, sein Gehirn würde Flugzeuge zum Absturz bringen, sein Hirn würde in die Luft, in den Weltraum springen, ja, diese ganze Gedankenwelt, da hätten wir die Anzeichen für eine Persönlichkeitsstörung …«
»Und was hat er über Zwangshandlungen gesagt?«
»Seien Teil der Persönlichkeit.«
»Wie seid ihr denn verblieben?«
»Wir sollen abwarten und mal sehen. Später können sie ihn ein paar Wochen lang zur Beobachtung aufnehmen, und im Erwachsenenalter dann Neuroleptika geben, Haldol. Und es würden noch weitere Untersuchungen erforderlich. Im Erwachsenenalter meint er, wäre Haldol in Kombination mit Arbeitstraining die einzige realistische Alternative für ein halbwegs normales Leben. Leider, sagt er.«
»Es muss andere Methoden geben.«
»Es gibt andere Methoden.«
»Wir müssen sie nur erst finden.«
»Wir finden sie.«
»Dann wird sich das Problem lösen.«
»Es wird sich lösen.«
»Ready … ready for take-off«, murmele ich drinnen auf dem Klo.
Alles geht weiter
Alles geht weiter. Ich donnere den Kopf an Türen, ticse in der Schule, kriege schlechte Noten, Nicht-bestanden-Noten. Hockey und Fußball funktionieren immer noch, aber Tanzen und Knutschen werden immer weniger – die Mädchen, die sich ja immer begrabbeln, können von Ingrid angesteckt sein, vielleicht werde ich angesteckt, vielleicht bin ich schon angesteckt. Ich schaffe es auch nicht mehr, auf Feste zu gehen, das Kopfschlagen und Grübeln und Ticsen macht mich müde, lieber will ich schlafen oder den Alltag unten in meinem Zimmer wegträumen. Außerdem fange ich an, Gefallen daran zu finden, allein zu sein. Wenn ich in meinem Zimmer bleibe, dann vermeide ich, den Körper Ansteckung und ticsigen Begegnungen auszusetzen.
Ich gehe immer noch zum Herrn Psychotherapeuten, vor allem, um meinen Eltern eine Freude zu machen. Sie hoffen, dass es mir trotz allem besser gehen wird. Wir betrügen uns selbst und bilden uns ein, dass es jetzt viel besser ist als noch vor einer Woche.
Der Herr Psychotherapeut durchschaut meine Notlügen und Improvisationen nicht, und wenn ich die Wahrheit erzähle, dann glaubt er, ich würde phantasieren. Was seiner Meinung nach auch ganz normal ist. Das meiste, was ich tue und sage, scheint, oberflächlich betrachtet, normal zu sein – ich habe Phantasie, bin spontan, mag Mädchen, tanze und knutsche gern, mag Sport und Musik. Ich erfülle die Kriterien für einen normalen Teenager. Er sieht die Tics nicht, nicht die Flugzeuge, den Applaus, die Impulse, die Rituale, die Beulen auf der Stirn. Er scheint nur das zu sehen, was er sehen will, und es endet immer mit einem eiligen »bis zum nächsten Mal«. Und außerdem tut er mir schließlich leid. Der Herr Psychotherapeut, der aus der Hauptstadt hierhergezogen ist, massenhaft Locken, eine große Brille und der allein in der Stadt wohnt. Am besten spiele ich mit, dann hat er wenigstens einen guten Abend.
Mama und Papa sehen nach unzähligen Versuchen, mich festzuhalten, ein, dass sie mich nicht davon abhalten können, den Kopf gegen Türen und Wände zu schlagen. Das Kopfschlagen verläuft in Perioden. Manchmal ist es wochenlang ruhiger, dann wieder viel intensiver und anstrengender. Sie sitzen fest, sind hilflos. Die Stimmung im Haus ist nicht mehr, wie sie mal war. Meine Schwestern sind immer öfter zu Besuch bei
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