Herr Tourette und ich
dass er zehn Meter hoch in die Luft fliegt – und genau vor Lillemor landet. Sie steht ganz still. Und sieht mich einfach an. Und dann schaut sie auf den Plastikeimer. Geht zwei Meter zurück, rückt die kleine Kochmütze zurecht, nimmt zwei schnelle Schritte Anlauf – und tritt den Eimer zu mir zurück.
»Du hast angefangen«, sagt sie.
Ich weiß nicht, was ich denke. Lillemor hat mich verwirrt, aber nicht wütend gemacht. Im Reflex trete ich den Eimer wieder zu ihr zurück. Da nimmt Lillemor den Eimer auf, geht langsam auf mich zu – und setzt ihn mir auf den Kopf. Dann klopft sie mir auf den Plastikeimerkopf, hakt mich unter und wiederholt: »Du hast angefangen.« Ich schaffe nicht zu reagieren oder zu antworten. Es ist, als würde Lillemor meinen Ticsmotor mit einer Tüte Dickmilch befüllen. Gedanken und Einfälle und Impulse explodieren in einem Nichts. Ich bin wie gelähmt, vollständig überrumpelt, mentaler Crosscheck. Verdammt, sie mag mich . Ich gehe Arm in Arm mit Lillemor, einen Plastikeimer über dem Kopf, und komme mir überhaupt nicht blöd vor, sondern fast natürlich. Ich weiß nicht, wie lange ich den Eimer auf dem Kopf habe. Aber ich erinnere mich, wie Lillemor laut und deutlich sagt:
»So, und jetzt machen wir Pfannkuchenteig. In dem Plastikeimer.«
Familienpfannkuchen:
200 g Weizenmehl
1 Teel. Salz
500 ml Milch
2 Eier
5 g Margarine
Meine Tourettepfannkuchen (in dem inzwischen gespülten Plastikeimer):
Weizenmehl = ok
Salz = tja (dieselbe Farbe wie Zucker, aber salziger, 5 + 4 = 9 Esslöffel sind ok)
Milch = nein (der Bürgermeister kauft Milch, er fasst mehrere Milchtüten an, ehe er sich entscheidet, somit können alle Milchtüten verseucht sein, und eine der verseuchten Milchtüten ist jetzt gerade hier in der Schulküche …)
Eier = 5 + 4 = 9 Eier (9 ist eine gute Zahl)
Margarine = vielleicht (wenn ich es schaffe, sie abzuwiegen)
Eine halbe Stunde später.
Lillemor legt mir die Hand auf die Schulter, kneift mich ein wenig und sagt:
»Das ist dein Pfannkuchenteig. Wenn es um Geschmack geht, gibt es keine absolute Antwort. Das Rezept ist nur ein Hilfsmittel, keine Lösung. Das hier ist dein Teig, dein Werk, deine Idee … aber ich werde ihn nicht essen.«
»Aber das ist doch ein perfekter Pfannkuchenteig …«
»Wenn du das meinst, dann ist es wohl so.«
»Natürlich ist es so.«
Lillemor dreht den Plastikeimer vier, fünf Mal auf den Kopf. Aber der Teig will nicht rauskommen. Er klebt bombenfest, und wir müssen Gewalt anwenden, um ihn herauszukriegen.
Lillemor gibt nicht auf, sie bricht den Teig los, zwingt ihn in die Pfanne und bittet mich, den Backprozess aufmerksam zu bewachen. Und nur ein paar Sekunden später muss ich der Tatsache ins Auge sehen: Das hier ist, als würde man Zement braten. Hart, trocken, roh. Lillemor hat Recht. Sie sieht mich an, kneift wieder ein wenig zu, und wir fangen beide an zu lächeln. Wir lachen. Und es ist das erste Mal seit langem, dass ich mit mir lache und nicht über mich.
Dann zeigt mir Lillemor, wie sie ihre Pfannkuchen macht. Wir gehen ganz vorsichtig zu Werke. Es macht gar nicht den Eindruck, als würde sie Unterricht geben, sie ist einfach anwesend, und alles fühlt sich richtig an. Sie schert sich nicht darum, mir Gramm und Esslöffel und Waagen zu zeigen. Sie ist ganz und gar nicht die faschistische Köchin, wie die andern sagen. Sie benutzt stattdessen das Auge als Messbecher und die Zunge als Waage.
»Es kommt darauf an, dass du die Aufgabe erfüllst, nicht immer, wie du sie erfüllst«, sagt sie und rührt weiter im Teig, probiert mit dem Finger und bereitet die Pfanne vor. Am Ende des Pfannkuchenprozesses fragt sie, ob ich ein besonderes Gewürz oder einen besonderen Geschmack in den Pfannkuchen haben will. Ich weiß nicht richtig, was sie meint, antworte aber wie immer: »Zimt würde sich gut machen.« Lillemor macht eine 250-Gramm-Tüte Zimt auf, dreht sie um, so dass der ganze Inhalt im Teig landet. Die ganze Lillemor verschwindet in einer Zimtwolke, die jetzt auch den größten Teil meiner Person bedeckt. »Wenn du Zimt willst, dann kriegst du Zimt, das sag ich dir.«
Zwei Stunden ist es her, dass ich dem Plastikeimer einen ordentlichen Tritt versetzt habe. Jetzt liegt der Pfannkuchenteig im selben Eimer, und ich habe Lillemors Kochmütze auf dem Kopf, und das fühlt sich natürlich an. Lillemor kümmert sich, ohne sich zu kümmern. Sie lässt die Impulse und das Verhalten zu, wenn ich nur die
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