Herr Tourette und ich
Aufgabe erfülle und nicht aufgebe. Keine Kommentare oder Zurechtweisungen und keine Herdenmentalität. Lillemor respektiert mich, und da habe ich schließlich keine andere Wahl, als auch sie zu respektieren. Wir begegnen uns. Und wir werden uns wieder begegnen. Wenn sie nur in der Aufnahmekommission meiner zukünftigen Universität sitzen könnte.
Als wir die Schulküche gegen fünf Uhr verlassen, ist der Schulhof dunkel und leer, nur hinten im Westflügel leuchtet es aus ein paar Fenstern, wo der Abendkurs im Fliegenfischen gerade begonnen hat. Ich darf mit Lillemor in ihrem Fiat 127 fahren. Man sieht das Auto kaum, sondern nur sie und vier Räder, und ich neben ihr mit der Schultasche und einer Schüssel Pfannkuchen. Lillemor fährt den Fiat mit Fingerspitzengefühl, die Pfannkuchen fühlen sich sicher. Ein paar hundert Meter vor unserem Haus hält sie an. Ich versuche, die Autotür mit der einen Hand zu öffnen, merke aber, dass es besser ist, sich gegen die Tür zu lehnen, dann wird sie schon von selbst aufgehen. Das tut sie auch, allerdings schneller als erwartet. Ich falle aus dem Auto, schaffe es aber, die Pfannkuchenschüssel zu balancieren. Lillemor fährt weiter. Ein paar hundert Meter später höre ich sie hupen, aber das ist sicher nicht mit Absicht. Der Fiat ist so klein und Lillemor so groß, dass sie beim Abbiegen oft mit dem Ellenbogen versehentlich an die Hupe kommt. Oft hört man Lillemor im Dorf mit ihrem kleinen 127er herumtuten.
Stolz stelle ich die Pfannkuchen auf den Küchentisch, schlage mit der Faust auf die Tischplatte – Zucken im Bauch und yes Sir .
Die kleine Schwester geht zur Pfannkuchenschüssel, sagt:
»Warum hast du am Tor gar nicht so gemacht?«
Anton
Anton unterrichtet Mathematik und englische Grammatik. Er springt auch in Geschichte und Werken ein. Die ganze Zeit lutscht er Halspastillen mit Lakritzgeschmack. Es lässt die Pastille im Mund herumrollen, zwischen die Zähne, vor und zurück, versteckt sie unter der Zunge, bis sie schmilzt und Lakritzspucke wird. Dann vergehen ein paar Minuten, und dann hat er wieder eine Pastille im Mund. Aber ich habe ihn noch nie eine Pastille in den Mund stecken sehen. Es ist, als würde er das heimlich machen oder als wäre es ein Teil einer heimlichen Bewegung mit der Hand. Aber ich habe ihn auch noch nie ohne eine Pastille im Mund gesehen. Ihn Halspastillen lutschen zu sehen ist ein ebenso bekanntes Bild wie der Rektor, der am Fenster steht und über den Lachsfluss schaut. Das gehört zum Gesamtbild, wie es in Gesellschaftskunde 2 steht. Anton hingegen hat niemals Probleme mit dem Hals, er ist nur selten erkältet, niemals krank und ist immer in der Schule. Seine Frau ist klein und kregel, sie betreibt die Rot-Kreuz-Stelle des Dorfes, aber ich habe sie noch nie gemeinsam Halspastillen lutschen sehen. Anton sieht so dermaßen entspannt natürlich aus, ein Gene Hackman ohne Zigaretten, ein Gene Hackman ohne Zigaretten mit Halspastillen. Anton geht nicht mit Papa zum Lachsangeln, aber sie sind im selben Schachclub.
Anton fährt einen Opel Kadett, ein blaues Coupé 1700 Super. Angeblich ist es das schnellste Auto im Dorf, aber Anton hat trotzdem den Ruf, der Schnarchsack schlechthin in Sachen Straßenverkehr zu sein. Er fährt immer mit einem Fenster halb offen, das ganze Jahr über. Ich habe mich oft gefragt, warum. Wenn es im Dorf einen Stau gibt, dann sind entweder die Holzlaster oder Anton schuld. Man sieht ihn da, das Fenster halb heruntergekurbelt, zurückgelehnt, eine Halspastille im Mund rollend. Anton kann beleidigt sein oder beleidigt wirken, weil er nicht versucht, lustig zu sein. Angeblich hat er seit zehn Jahren nicht öffentlich gelacht, aber das ist vielleicht auch nur ein Gerücht. Er versucht einfach nicht, an seinem Alter zu drehen, so zu tun, als wäre er jünger als er ist, wie Fräulein Gemeinschaft und der Troubadourpolitiker, die Jeansjacken tragen, obwohl sie schon sechzig sind und bereits ihren dritten Bandscheibenvorfall hinter sich haben. Anton ist direkt und geradeheraus, sagt nicht viel, und wären da nicht diese Halspastillen, dann würde er in dieselbe Gruppe von Lehrern gehören wie der Chemielehrer und Natur-Olle, die ernsten Jackett-Träger. Aber Anton hat etwas anderes an sich. Wenn er mit mir redet, dann schaut er mir direkt in die Augen. Und das ist ungewöhnlich.
Ich empfinde ein ungeheures Verlangen, Dinge anzufassen, sie zu berühren. Dann werde ich ruhig, der Stresspegel sinkt, die Impulse
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