Herrentag: Anwalt Fickels erster Fall (German Edition)
Und wenn man auf Du und Du mit dem einfachen Volk steht, dann zahlt sich das mitunter auch mal aus. Denn als der Fickel so ein bisschen enttäuscht guckte, weil die Therese gerade den letzten Auftrag an den Kollegen Amthor rausgegeben hatte, da brachte die es einfach nicht übers Herz, dem Fickel nicht wenigstens die Nummer des Saales zuzustecken, in dem die Verhandlung stattfinden sollte.
Das war, bei Licht betrachtet, natürlich nicht ganz fair, denn der alte Amthor ist, wie eigentlich jeder am Gericht weiß, nicht mehr sonderlich gut zu Fuß, oder besser gesagt »bei Lunge«. Und deshalb tritt er auch fast nie persönlich in der Geschäftsstelle in Erscheinung, sondern akquiriert ohne Ausnahme telefonisch. Schließlich wohnt er direkt in der Kreuzstraße, also keine vierhundert Meter entfernt, und kann in etwa fünfzehn Minuten von seiner Kunstledercouch aus im Sitzungssaal sein.
Der Fickel allerdings ist früher, also in seiner Jugend, wegen seiner hohen Statur und seiner kräftigen, aber durchaus athletischen Figur als Anschieber bei den Bobfahrern in Oberhof gewesen. Und seine Kondition ist immer noch à la bonheur für sein Alter, trotz des kleinen Bauchansatzes. Und so war vom Amthor weit und breit nix zu sehen, als der Fickel den Gerichtssaal betrat und sich als Vertreter für die Beklagtenpartei auswies. Denn der Partei war es schließlich egal, wer für sie den Antrag stellte, der Amthor oder der Fickel.
Wie der Zufall so spielt, hatte die Richterin Driesel den Vorsitz in der Verhandlung inne. Neben ihr hockte außerdem noch dieser spitznasige Rechtsreferendar auf der Richterbank, der ursprünglich bei der Kminikowski in der Ausbildung gewesen war. Der Kerl kam dem Fickel irgendwie bekannt vor, wenn er in dem Moment auch nicht hätte sagen können, wo er die picklige Visage schon mal gesehen hatte. Die Referendare kamen und gingen und kamen irgendwann vielleicht als Anwälte oder Richter zurück. Einige auch als Taxifahrer.
Die Driesel war natürlich alles andere als glücklich über Fickels Erscheinen, denn sie hatte insgeheim schon gehofft, die verkorkste Akte mit einem Vau-U, einem sogenannten Versäumnisurteil, entspannt aus der Welt zu katapultieren. Und nur weil der Fickel scharf auf die Prozessgebühr von grob geschätzten sechzig Euro vor Steuern und Abgaben war, musste sie jetzt ein richtiges Urteil schreiben. Mit Tenor, Sachverhalt und Entscheidungsgründen bedeutete das mindestens zwei Stunden Extraarbeit!
Vor allem hatte die Driesel ja eigentlich vorgehabt, ihren Dienst mit der Übergabe der Direktionsgeschäfte ganz gemütlich auslaufen zu lassen, weil sie zwei Wochen vor der Pensionierung natürlich keine neuen Akteneingänge mehr bearbeiten musste. Und nur wegen des unvorhergesehenen Todes der Kminikowski musste sie auf ihre letzten Arbeitstage jetzt noch mal richtig ranklotzen. Denn wie es der Zufall oder vielmehr der Geschäftsverteilungsplan wollte, war die Richterin Kminikowski zu Lebzeiten ausgerechnet der Amtsgerichtsdirektorin Driesel als Vertretungsrichterin zugeordnet gewesen – und umgekehrt. Manche Dinge haben auch über den Tod hinaus Bestand, wie die Vertretungsregelungen bei der Justiz zum Beispiel.
Andererseits ließ man es als Vertreterin natürlich etwas ruhiger angehen. Der aktuelle Fall lag ziemlich klar und war selbst für eine allenfalls durchschnittlich begabte Zivilrichterin wie die Driesel leicht zu überschauen: Der Kläger, seines Zeichens Postbote, hatte fünfhundert Euro Schmerzensgeld und dreiundvierzig Euro Schadensersatz für seine Cordhose eingeklagt, weil ihn der Cavalier-King-Charles-Spaniel der Rentnerin Reichenbach anlässlich einer Paketzustellung in die Wade gebissen haben sollte. Ein ärztliches Attest bescheinigte eine oberflächliche Fleischwunde, die desinfiziert, aber nicht hatte genäht werden müssen. Trotzdem hatte sich der Postbote aufgrund seiner eigenen medizinischen Einschätzung glatte drei Tage arbeitsunfähig gemeldet. Schließlich brachte der Kläger noch vor, seit dem Bissvorfall faktisch traumatisiert zu sein. So müsse er jedes Mal die Straßenseite wechseln, wenn ihm auf dem Bürgersteig ein noch so kleiner Hund entgegenkomme.
Die alte Reichenbach hatte nun schriftlich durch ihren Vormund bestreiten lassen, überhaupt einen Hund, geschweige denn einen Cavalier-King-Charles-Spaniel zu besitzen. Der Postbote konnte wiederum nicht weniger als vier Kollegen als Zeugen dafür aufbieten, dass bei der alten Reichenbach bei der
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