Herrentag: Anwalt Fickels erster Fall (German Edition)
schweren Dieselgeruch hatte der Kriminalrat noch immer in der Nase. Heute war hier eine bevorzugte Wohnlage, ruhig und trotzdem zentral. Fast idyllisch, wenn nur das hässliche Parkhaus gegenüber nicht gewesen wäre.
Vielleicht war der Kriminalrat durch seine Betrachtungen ein wenig abgelenkt – anders ist sein Versagen im Nachhinein eigentlich kaum zu erklären. Aber wenn der Recknagel auch nur im Entferntesten geahnt hätte, dass der Rechtsreferendar René Schmidtkonz sich komplett irrational, ja sogar widersinnig verhalten würde, dann hätte er sicher noch einen oder zwei sportliche Kollegen mitgebracht und ein paar Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Aber so betätigte er einfach die Klingel, und als sich über die Gegensprechanlage die junge männliche Stimme meldete, sagte er: »Recknagel, Kriminalpolizei. Wir hätten kurz einen Sachverhalt zu klären!«
In der Regel reagierten die Bürger auf solch eine Ansage, die sie meist schon tausendfach im Fernsehen gehört hatten, neugierig oder interessiert, manchmal auch eingeschüchtert. Aber als der Kriminalrat über eine Minute nichts mehr hörte und auf der anderen Seite auf sein Nachfragen hin niemand reagierte, ging er mit ungutem Gefühl um das Haus herum und sah auch gleich im ersten Stock das geöffnete Fenster. – Da hatte er den Salat!
Als er ins Büro der Oberstaatsanwältin zurückkehrte, um die Panne zu beichten, war er auf alles Mögliche gefasst. Doch entgegen seinen Befürchtungen reagierte die Gundelwein auf die Flucht des Zeugen René Schmidtkonz für ihre Verhältnisse recht gnädig, beinahe entspannt. Schließlich bestärkte es sie in ihrer Vermutung, dem richtigen Täter auf der Spur zu sein. »Ich hatte bei dem Kerl gleich so ein komisches Gefühl«, rief sie triumphierend. »Wie der einen schon immer angesehen hat!«
Sie schlug ostentativ ihre langen, trainierten Beine übereinander; der Recknagel betrachtete intensiv seine Hände, um nicht ebenfalls als Voyeur oder Ärgeres abgestempelt zu werden. Trotz ihrer guten Laune konnte sich die Gundelwein eine kleine Anspielung auf sein Alter nicht verkneifen: »Wenn Sie mit Mittzwanzigern um die Wette rennen wollen, ziehen Sie das nächste Mal wenigstens ihre Spikes an!« Sie blickte lächelnd auf die Slipper, die die Frau des Kriminalrats für ihn ausgesucht hatte.
»Wie gehen wir jetzt vor?«, fragte der Recknagel, um möglichst schnell wieder dienstlich zu werden.
»Hausdurchsuchungsbeschluss und Haftbefehl gehen heute noch raus«, antwortete die Gundelwein.
Der Kriminalrat seufzte in sich hinein. »Am Feiertag? Wo kriegen wir denn da einen Richter her?«
»Wozu gibt es den Eildienst?«, fragte die Oberstaatsanwältin rhetorisch und hatte den Hörer schon in der Hand. »Wir können doch nicht abwarten, bis der Verdächtige sich abgesetzt hat!«
Ihr Gesicht verdunkelte sich. Sie aktivierte den Lautsprecher des Telefons, und eine elektronische Stimme sagte gleichgültig ihren Spruch auf: »Der Teilnehmer ist zurzeit leider nicht zu erreichen. Bitte versuchen Sie es später noch einmal.« Und danach das Gleiche noch mal auf Englisch. Der Recknagel konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. So viel zur Arbeitsmoral der Justiz. Doch die Oberstaatsanwältin zeigte sich überhaupt nicht gewillt, es »später noch einmal zu versuchen«.
»Sie geben sofort eine Fahndung raus nach René Schmidtkonz! – Verstanden?«
»Ohne Haftbefehl?«
»Das nehme ich auf meine Kappe«, erklärte die Oberstaatsanwältin resolut. »Gefahr im Verzug! – Während Sie den Flüchtigen schnappen, besorge ich uns einen Richter. Und wenn ich ihn persönlich aus irgendeiner Absturzkneipe herschleifen muss!«
Der Recknagel hegte nicht die geringsten Zweifel, dass es der Oberstaatsanwältin mit ihrer Drohung bitterer Ernst war. Er drehte sich auf dem Absatz um und eilte schleunigst ins Präsidium, um die Fahndung einzuleiten. Insgeheim war er immer noch sauer auf den flüchtigen Referendar, aber nicht minder auf sich selbst. Sich so vorführen zu lassen, wie hatte ihm das passieren können?
Während der Kriminalrat Recknagel nach der Pfeife der Oberstaatsanwältin tanzen musste und für ihn von Feiertag keine Rede sein konnte, ließ es sich der Fickel auf seiner Datsche in der Anlage »Werratal II « nach Kräften gut gehen und ahnte natürlich nicht das Geringste von den kniffligen Verwicklungen, die die nahe Zukunft für ihn bereithielt.
Zum Herrentag hatte er wie jedes Jahr auf seiner Gartenterrasse für Freunde und
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