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Herrentag: Anwalt Fickels erster Fall (German Edition)

Herrentag: Anwalt Fickels erster Fall (German Edition)

Titel: Herrentag: Anwalt Fickels erster Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Henner Hess
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verirrte sich seit Jahren kein vernünftiger Mensch mehr hin, bei den horrenden Preisen, die sie in dem Laden verlangten! Früher hatte sich in dem Gebäude ein Intershop [ 2 ] befunden, aus dem es immer so exotisch gerochen hatte, dass dem Fickel beim Vorbeigehen jedes Mal das Wasser im Maul zusammengelaufen war. Aber mehr als Vorbeigehen war schon damals nicht – und daran hatte sich nicht viel geändert. Das Problem war nach wie vor: zu wenig Westgeld in der Tasche.
    Dass die Driesel den Fickel zum Festbankett eingeladen hatte, war mit ihrem besonderen persönlichen Verhältnis zu erklären, denn beide hatten einst in Jena an derselben juristischen Fakultät studiert, auch wenn beinahe zwanzig Jahre dazwischen lagen. Außerdem gehören die Driesel und der Fickel einer aussterbenden Gattung der Meininger Juristen an, die noch ein gepflegtes »Meeninger Platt« beherrschen, eine Art Geheimsprache, die jenseits der Stadtgrenzen niemand versteht oder verstehen will.
    Dieser stadteigene Dialekt hat mit dem Hennebergischen, das in der Peripherie – beispielsweise in Schmalkalden oder Suhl – gesprochen wird, wenig zu tun. Über die mehr als zehn Jahrhunderte, die Meiningen mittlerweile auf dem Buckel hat, haben sich jedoch ein größerer fränkischer und ein kleinerer hessischer Einschlag eingeschlichen, wobei das »Zungen-R« für die meisten Ortsunkundigen noch die kleinste Hürde darstellt. Man erkennt den eingeborenen Meininger leicht an einer gewissen Maulbräsigkeit und an der Scheu vor Vokalen, die er zumeist durch den übermäßigen Gebrauch der Buchstaben Ä und Ö überspielt, während er sich lieber einmal zu viel als zu wenig mit einem »Gell?« beim Gesprächspartner rückversichert. So eine Sprachidentität schweißt heimatverbundene Menschen wie die Driesel und den Fickel zusammen, ganz abgesehen von der ohnehin gegebenen Grundsympathie, die Menschen mit einem eher stämmigen Körperbau füreinander empfinden, weil man gewisse Leidenschaften zu teilen scheint.
    Zu dem Bankett kam der Fickel natürlich mal wieder zu spät, weil er leichtsinnigerweise davon ausgegangen war, dass er noch in seinen guten alten Hochzeitsanzug passen würde, aber das war dann doch etwas zu optimistisch gedacht. Der Fickel hatte sich neuerdings diesen kleinen Bauchansatz angefressen, der im Grunde nur im Profil auffiel, an diesem Abend aber leider dazu führte, dass er den untersten Knopf des Sakkos nicht mehr richtig zubekam und die Frau Schmidtkonz, seine Vermieterin, noch mal kurz mit ihrer Nähmaschine ranmusste.
    Als der Fickel schließlich kurz nach neun im Sächsischen Hof ankam, waren schon fast alle Plätze belegt. Aber er zog es ohnehin vor, am Rand zu sitzen, bei all diesen wichtigen Menschen im Raum. Die Veranstaltung begann ein bisschen verspätet, weil die Hauptperson des Abends, die scheidende Amtsgerichtsdirektorin Driesel, auf die Schnelle kein Taxi bekommen hatte. Wie nur einige ihrer engsten Vertrauten wussten, hatte die Driesel nämlich nie eine Fahrprüfung abgelegt – ob aus Unlust oder Unvermögen, blieb ihr Geheimnis.
    Als die Driesel endlich im für sie untypischen Kleid etwas abgehetzt im Saal erschien, klopfte der ehrwürdige, allseits wegen seiner Kompetenz geachtete Richter Leonhard mit einem Messer gegen das Weinglas und ergriff das Wort. Ohne spürbare Heuchelei würdigte er mit warmen, aber auch nicht zu warmen Worten die besondere Lebensleistung der Driesel, die ja noch in der DDR quasi Un-Recht studiert und dann später auf Rechtsstaat umgelernt habe. Manch einer sah darin eine Spitze, weil der Leonhard sich selbst schon immer für den geeigneteren Direktor gehalten hatte.
    Im Amtsgericht herrschte traditionell ein Ringen um die Vorherrschaft zwischen den Strafrechtlern auf der einen und den Zivilrechtlern auf der anderen Seite. In Meiningen waren die »Zivis« in der Überzahl und gaben nicht nur bei den Personalentscheidungen den Ton an, was die berufsbedingt ohnehin pessimistische Stimmung bei den Strafrechtlern noch weiter verschlechterte. Das konnte der Leonhard natürlich nicht wissen, als er im Jahr 1990 aus einem inneren, gewissermaßen vaterländischen Pflichtgefühl heraus und womöglich auch, weil es in seiner bayrischen Heimat für eine Richterkarriere nicht gelangt hätte, ins tiefste Thüringen gekommen war, um in den neuen Bundesländern eine funktionierende Justiz aufzubauen. Nicht nur, dass seine Ehe über der ewigen Pendelei gescheitert war, zu allem Überfluss war ihm auch

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