Herrgottschrofen
– und die Konsequenzen, die daraus erwuchsen, wenn Hartinger nicht auf diesen Deal einging – ausgedeutscht hatte, saß der Delinquent abermals im kleinen Dreier-Besprechungsraum. Hanhardt schaltete sein Band an, doch Hartinger musste nicht viel mehr darauf sprechen, als dass er am Donnerstag, dem 7. April, nach einem Besuch des John’s Club in Garmisch-Partenkirchen einvernehmlichen Geschlechtsverkehr mit Svetlana Ryschankawa gehabt habe. Dieser habe in seinem Auto, Marke Volvo, stattgefunden. Hartinger sagte noch, er habe dies zunächst nicht zugeben wollen, da er zu der Mutter seines Sohnes wieder zarte Bande zu knüpfen versuche. Diese Bemühungen habe er nicht durch das Zugeben einer Affäre mit Frau Ryschankawa zunichte machen wollen. Nach drei Wochen in Untersuchungshaft sei ihm nun klar geworden, dass er der Wahrheit den Vorzug vor einer etwaigen Familienzusammenführung geben müsse.
Hanhardt war vollkommen bewusst, dass er eine Lüge zu Protokoll nahm. Normalerweise wäre das kein Problem gewesen. Beschuldigte durften lügen. Doch in diesem Fall machte auch er sich schuldig. Er würde diese Lüge benutzen, um den Fall Ryschankawa abzuschließen. Zumindest was den Tatverdächtigen Karl-Heinz Hartinger anbelangte. Der Fall war damit so offen wie vor einem Monat, als die junge Weißrussin, mit dem Stativ Hartingers durch die Brust gerammt, gefunden worden war. Hanhardt beruhigte sich damit, dass er wenigstens den sehr wahrscheinlich unschuldigen Hartinger freilassen konnte.
Dass er keine Ahnung hatte, wie und wo er die Ermittlung wieder aufnehmen sollte, beruhigte ihn weniger. Er würde diesen Fall aufklären, schwor er sich. Und er wollte auch wenn möglich in Erfahrung bringen, wer das Beweismittel zu Hartingers Ungunsten gefälscht hatte. Auch Hanhardt ging mittlerweile von einer kriminellen Verschwörung gegen Hartinger aus.
Dr. Mertens war nicht wohl in seiner Haut, aber er war zufrieden. Wenn alle Beteiligten die Klappe hielten – und das würden sie, es stand von Dienstsuspendierungen bis lebenslänglicher Haft zu viel für die Einzelnen auf dem Spiel –, würde sein Mandant ohne einen einzigen Buchstaben in seinem Führungszeugnis alt werden können. Wie Hartinger in seinem Garmisch-Partenkirchen mit der Geschichte am Hals weiterleben sollte, war ihm zwar ein Rätsel, aber dessen Lösung gehörte nicht in seinen Aufgabenbereich. Er notierte sich allerdings in seinen Blackberry, dass er gleich am nächsten Morgen Frau Dr. Dorothee Allgäuer einen riesigen Blumenstrauß der besten Gärtnerei der Stadt schicken wollte.
Nun stand Hartinger also in dem aufgebügelten Lodenanzug von Kathis Opa oben an der Straße. Er hätte noch an der Pforte ein Taxi rufen sollen, aber drei Wochen lang hatte man ihm wie ein unmündiges Kind vorgeschrieben, was er zu tun und zu lassen hatte. Er musste sich wohl erst wieder daran gewöhnen, seine eigenen Entscheidungen zu treffen. Wenn niemand ein Taxi bestellte, war eben keines da. Von seiner durch jugendliche Papillon-Lektüre ausgelösten Gefängnis-Sehnsucht war er jedenfalls kuriert.
Es war Freitagnachmittag, und Dotti würde sicher noch arbeiten. Er simste ihr ein »Bin draußen« und ging nach links, wo er die nächste U-Bahn-Station am Mangfallplatz wusste. Bereits am Kolumbusplatz schaffte es die Antwort-SMS von Dorothee Allgäuer durch die Stahlarmierungen des Münchner Untergrunds. Sie lautete: »19 Uhr bei mir.« Hartinger spürte, dass er wie ein Siebtklässler vor der Mathe-Nachhilfestunde bei der angebeteten großen Schwester des besten Freundes feuchte Hände bekam.
Dorothee Allgäuer hatte die E-Mail wie alle anderen auch erst um kurz nach fünfzehn Uhr erhalten. Vollversammlung um siebzehn Uhr. Sie hatte sich pünktlich zum Vorlesungssaal 1 des Gerichtsmedizinischen Instituts München begeben, wo sie mit ihren Kolleginnen und Kollegen gespannt darauf wartete, was man ihnen mitteilen wollte. Die meisten der knapp einhundert Mitarbeiter des Instituts saßen in Gruppen zusammen. Nur neben ihr waren rechts wie links alle Plätze frei.
Eine Betriebsvollversammlung war ungewöhnlich. Dorothee Allgäuer hatte in den sieben Jahren, die sie für das Institut arbeitete, kein derartiges Plenum erlebt. Aber es hatte in letzter Zeit genug andere ungewöhnliche Vorkommnisse gegeben, um eine solche Versammlung zu rechtfertigen.
Vorn, wo normalerweise formaldehydgetränkte Leichen vor den Studierenden seziert wurden, stand Professor Marchsteiner. Er trug
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