Herrgottschrofen
das war: zuhören. Das ist nichts Besonderes, wird nun vielleicht mancher Leser sagen, zuhören kann doch jeder. Aber das ist ein Irrtum. Wirklich zuhören können nur ganz wenige Menschen. Und so wie Momo sich aufs Zuhören verstand, war es ganz und gar einmalig. Momo konnte so zuhören, dass dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanken kamen. Sie konnte so zuhören, dass ratlose oder unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten. Oder dass Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten …«
»Das ist er«, sagte Martin zu Jo Saunders.
»I know. Ich habe ihn erkannt.« Jo hörte weiter zu, wie der Mann vorlas. »Er hat keinen Akzent.«
»Einen ganz leichten vielleicht. Aber er hat sehr an sich gearbeitet.«
»Du hast gewusst, dass er hier ist.«
»Ich bin im Vorstand des Michael-Ende-Vereins. Ich weiß, wer hier was macht. Und irgendwann habe ich ihn erkannt.«
»Und jetzt?«
»Lass uns spazieren gehen.«
»Wieder die Fußgängerzone auf und ab? Noch ein Geständnis?«
»Ich habe noch etwas entdeckt, das muss ich dir zeigen.«
Sie erhoben sich, ohne dass der Vorleser oder eines der Kinder Notiz von ihnen genommen hätte. Durch den Seitenausgang verließen sie den Park, um wenige Meter neben der Idylle, die die alten Bäume mitten in die Garmischer Innenstadt zauberten, in der geschäftigen Shoppingmeile herauszukommen.
»Dort, wo wir das letzte Mal mit dem Bummel aufgehört haben«, dirigierte er sie weiter die Straße in Richtung Spielbank hinauf.
»Eigentlich müsste ich jetzt zur Polizei.«
»Lass uns heute Abend darüber sprechen, Jo. Du hast den Mann gesehen. Das war das, was du wolltest.«
»Eigentlich wollte ich mit ihm sprechen.«
»Das kannst du immer noch. Ich möchte nur keinen Bürgerkrieg an diesem Ort.«
»Bürgerkrieg? Der Mann hat meine Schwester vergewaltigt und ermordet!«
»Es stehen derlei Verdächtigungen in der Akte, die du nach sechzig Jahren gefunden hast. Das heißt längst nicht, dass er es wirklich getan hat.«
»Und warum hat der Mann dann seinen Namen geändert?«
»Er hat eine Frau geheiratet und ihren Namen angenommen. Das war damals ungewöhnlich, aber er wollte vielleicht auch einfach einen deutschen Nachnamen.«
Jo Saunders ging ein paar Meter schweigend neben Martin Bruckmayer her. »Maybe you’re right. Let’s talk it over.«
Martin nickte. Dann blieb er auf einmal vor dem Schaufenster des Trachtenmodengeschäfts stehen. Eine ganze Werdenfelser Trachtenfamilie aus Plastik stand darin. Vater und der kleine Sohn in Lederhose, Mutter und die halbwüchsige Tochter im Dirndlgwand.
Jo Saunders brauchte die Schaufensterpuppen nicht lange zu studieren. »Oh, my god! Martin, look! Die Frau und das Mädchen, die tragen genau das Dirndlkleid, das ich mit dreizehn bekommen habe!«
Martin Bruckmayer zog eine alte Schwarzweißfotografie aus der Innentasche seiner eleganten Lodenjoppe. »Das bist du in genau dem gleichen Dirndl. Bei den Farben musste ich mich auf meine Erinnerung verlassen. Aber der Rest stimmt haargenau.«
»Und das hast du hier für mich …«
»… in der Manufaktur dieses Geschäfts anfertigen lassen. Richtig. Sie wollen es ins Programm aufnehmen und nach dir benennen. Für Kinder und Erwachsene. Wollte ich dir neulich schon zeigen. Aber dann musstest du dringend Rum ohne Tee im Café Krönner trinken. Komm, wir gehen rein. Du musst es gleich anprobieren.«
In puncto Service ließ die bayerische Justiz stark nach, fand Hartinger. In die Justizvollzugsanstalt Stadelheim hinein war er in einem bequemen 5er BMW durch das Südportal chauffiert worden, hinten rechts sitzend, wie sich das gehörte. Der Weg aus dem Knast führte zu Fuß durch den Haupteingang, und auch draußen wartete niemand mit einer BMW-Limousine auf ihn. Das Schloss des schweren Tores schnappte hinter ihm zu, und er stand in einem Graben, der parallel zur langen Gefängnismauer an der Stadelheimer Straße gebaggert worden war. Wohl aus Sicherheitsgründen befand sich die Pforte der Hauptwache im Souterrain, und man musste zuerst nach links oder rechts einen langen Weg nach oben steigen, wenn man sich wieder als freier Mensch fühlen wollte.
Es war alles ruckzuck gegangen. Am Tag zuvor hatte Hartinger seinen Anwalt Dr. Mertens wissen lassen, dass er eine Aussage bei Kriminalhauptkommissar Jürgen Hanhardt machen wolle. Hanhardt kam sofort aus Weilheim angerast. Eine Stunde, nachdem ihm Dr. Mertens die Inhalte des von ihm ausgehandelten Deals
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