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Herrgottschrofen

Herrgottschrofen

Titel: Herrgottschrofen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Ritter
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der Name gefallen war, flüsterte, raunte und zischelte es überall aufgeregt durcheinander. Dieses Mal war aus dem Geflüster und Gemunkel kein wohlmeinender Ton herauszuhören. Die unter ihr sitzenden Kolleginnen und Kollegen drehten sich nach und nach zu Dorothee Allgäuer um und starrten sie erstaunt und verwirrt an.
    Während des Abendessens im Erkerzimmer sagte Jo Saunders: »Morgen will ich mir den anderen ansehen.«
    Martin Bruckmayer schenkte Weißwein nach. »Gern. Ich fahre dich, wohin immer du willst. Morgen Vormittag, in Ordnung?«
    »Danke. Ich danke dir sehr dafür, dass du mich hier so großzügig aufgenommen hast. Es ist wirklich sehr schön, mit dir zusammen zu sein. Und das unter diesen Umständen.«
    »Jo, das ist doch selbstverständlich.«
    »Du hättest mich ins Hotel schicken können.«
    »Ich bitte dich. Dieses Haus ist groß genug für zwei. Es ist groß genug für zwölf.«
    »Wie mein Haus. Wunderschön. Ich habe dir die Bilder gezeigt. Direkt am Meer. Nur eben zu groß. Ich werde mir etwas Kleineres suchen müssen, wenn ich wieder zurück in den USA bin. Downtown, dann muss ich auch nicht so viel Taxi fahren.«
    »Du willst also zurück?«
    »Martin, natürlich. Ich bin seit sechzig Jahren in den Staaten zu Hause. Ich bin Amerikanerin. Meine Freunde leben dort. Ich denke in der anderen Sprache, ich freue mich auf den 4. Juli und auf Thanksgiving!«
    »Zum ersten Mal lebe ich mit dir unter einem Dach. Mit achtzig Jahren. Das war lange Zeit mein Traum. Also wird dieser Traum nur ein paar Wochen anhalten?«
    »Martin, wir sind keine zwanzig mehr. Wir sind achtzig. Einen alten Baum verpflanzt man nicht, heißt es doch bei euch.«
    »Bei uns … Und was heißt es bei euch? Weißt du, was dein Tom Saunders immer gesagt hat? ›Life isn’t worth living unless you’re willing to take some big chances.‹ Gut, er hat das meistens gesagt, wenn er eine neue und nicht immer schöne Aufgabe für einen hatte, zum Beispiel eine verstopfte Toilette wieder in Gang zu bringen!« Martin lachte und nahm einen großen Schluck Weißwein, als müsste er eine Erinnerung herunterspülen. An Tom Saunders oder an eine verstopfte Toilette. Oder an beides.
    »Und ich habe als Allererstes von Tom Saunders gelernt: ›Life is simple, you make a choice and don’t look back.‹ Das hat er mir in den ersten Jahren oft gesagt. Ich hatte starkes Heimweh, das kannst du glauben.«
    »Aber du hast zurückgeschaut. Du bist wieder hergekommen.«
    »Ich frage mich, ob das nicht ein Fehler war, Martin.«
    »Nein, es war ein Wink des Schicksals. Wir müssen das Schicksal akzeptieren. Ich bin der festen Überzeugung, dass es uns beide zusammenbringen will, Jo.«
    Jo Saunders schaute durch das Fenster in den dämmernden Abendhimmel über dem Wettersteingebirge. Sie schwieg lange. Dann sagte sie: »Ich spüre hier das, was man auf Deutsch ›Heimat‹ nennt. Wir haben kein wirklich passendes Wort dafür im Englischen. Am ehesten ›home‹. Ich weiß nicht mehr, wo mein ›home‹ ist, in California oder hier.«
    »Das ist doch ganz einfach, Jo. Heimat ist dort, wo die Wurzeln sind, und sind sie noch so verkümmert und alt. Die Erde, auf der du das Laufen gelernt hast, das ist die wahre Heimat.«
    »Maybe you’re right.«
    Martin blickte ihr tief in die Augen. »Bleib hier, Jo. Dieses Mal bleib bei mir.«
    Jo hielt seinem Blick stand. »Ich weiß nicht, ob ich hier leben kann, Martin. Diese beiden Männer leben hier. Auch wenn ich sie der Polizei übergebe, ihre Familien leben hier. Garmisch kann kein Platz für mich sein. Ich störe hier.«
    »Darum meine Bitte, Jo. Lass die Vergangenheit ruhen. Vergib ihnen. Das ist alles vor so langer Zeit geschehen. Vor ein, zwei Leben. Bleib bei mir. Hier oben auf der Maximilianshöhe. Du wirst diese Männer nie mehr sehen, auch wenn sie im selben Ort wohnen. Franziska wird so und so nicht mehr lebendig. Sie wurde am Herrgottschrofen begraben. Vor sechzig Jahren. Verdammt lange her …«
    »I don’t know, Martin … Kann man solche Leute laufen lassen? Ich weiß nicht, ob das recht ist.«
    Von der kleinen Kaffeebar auf der anderen Seite der Schellingstraße aus konnte Hartinger sehen, dass das Objekt seiner Begierde endlich das Haus betrat. Dr. Dorothee Allgäuer war überpünktlich. Um Viertel vor sieben war sie mit einer Einkaufstüte in der Hand im Wohnhaus verschwunden. Er glaubte gesehen zu haben, dass ein Baguette aus der Tüte herauslugte. Drei Minuten später musste Dotti in

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