Herrgottswinkel
Beschimpfungen! Ich spürte die Kälte nicht und ich spürte auch nicht das Gewicht von meinem Kind, das ich auf meinen Armen fest an mich gedrückt hielt.
Kurze Zeit später hielt ein Auto neben mir an. Es war mein Mann, der mir die Tür öffnete, dann setzte ich mich mit Lukas auf den Beifahrersitz. Als ich sie wieder geschlossen hatte, nahm er mich mitsamt Lukas in den Arm, und ich merkte an seinem nassen Gesicht, dass auch er geweint hatte. Susanne und Jonas saßen hinten im Auto und sprachen kein Wort. Die Kinder verstanden den Sinn der Worte, die ihr Onkel gesagt hatte, noch nicht, doch spürten sie, dass es etwas ganz Schlimmes gewesen sein musste. Was veranlasste ihn bloß zu diesen Beschimpfungen?
»Was soll ich nur machen, Julia?« Franz war ganz verzweifelt. »So kann das doch nicht weitergehen.«
»Du hast mich bei deinem Bruder mit keinem Wort in Schutz genommen! Ich habe von dir kein Wort zu meiner Verteidigung gehört! So geht es tatsächlich nicht weiter.« Ich war außer mir vor Wut und Enttäuschung. »Ich hatte dich gebeten, an meiner Seite zu sein, falls es hart auf hart kommt. Deswegen habe ich überhaupt zugestimmt, mitzukommen. Von nun an kannst du allein zu Eberhart gehen, ich setze keinen Fuß mehr über die Schwelle!«
Zu Hause angekommen, fasste ich einen Entschluss. Wir stritten doch eigentlich nur noch. Und immer wegen Agnes und Eberhart. Sie hatten erreicht, worauf sie die ganze Zeit hin ge arbeitet hatten – unsere Ehe war kaputt. Und ich brauchte schnellstens Abstand, sonst würde ich an dieser Si tuation noch zerbrechen. Ich beschloss, für eine Weile mit den Kindern zu Rosel zu ziehen, um der schwierigen Situation mit Franz aus dem Weg zu gehen und zum Nachdenken zu kommen.
Als Franz am nächsten Morgen bei der Arbeit war, packte ich schnell das Nötigste für mich und die Kinder, um fürs Erste bei Tante Rosel versorgt zu sein. Irgendwie kam ich mir dabei vor wie Berganna bei ihrem Auszug von der Breite, allerdings floh ich nicht aus dem Haus der bösen Schwiegermutter, sondern aus dem Nest, das Franz für die Kinder und mich gebaut hatte. Ich liebte ihn noch immer, auch wenn er sich so schwer damit tat, sich um meinetwillen von seinem Bruder zu lösen.
Aber wie der Berganna war mir klar geworden, dass ich eine Veränderung in meinem Leben herbeiführen musste, wohin auch immer mich diese Veränderung bringen mochte. Das Gewohnte ging nicht mehr, und etwas Neues war noch nicht in Sicht. Ich lebte in einer Art Zwischenwelt und Zwischenzeit – und wo hätte ich diese besser verbringen können als bei meiner Tante Rosel, die mir schon immer zur Seite ge standen hatte, wenn mein Leben an einem Scheideweg angelangt war.
Franz schüttelte verständnislos den Kopf, als ich beim Mittagessen meine Pläne mit ihm besprach, und meinte nur: »Tu, was du nicht lassen kannst. Wenn es dir bei deiner Entscheidung hilft, dann geh doch zu deiner guten Fee.«
Am frühen Nachmittag traf ich mit Sack und Pack und meinen Kindern bei Tante Rosel ein. »Ja, wer kommt denn da?«, sagte sie erstaunt und blickte vom Küchenherd hoch. »Wollt ihr auch einen Teller Hühnersuppe?«, fragte sie. Kurze Zeit später saßen wir zusammen und löffelten die Suppe in uns hinein. »Du schaust so traurig, Julia. Hast du Sorgen?«, fragte sie mich ohne Umschweife.
»Ich weiß einfach nicht mehr, wie es in meiner Ehe weitergehen soll. Kann ich eine Zeit lang mit den Kindern bei dir wohnen, bis sich die Situation wieder etwas gebessert hat?«
»Du kommst aber auch immer zu mir, wenn es brennt«, erwiderte sie. »Natürlich kannst du hierbleiben. Ein Geheimrezept habe ich allerdings nicht für dich, Julia, und eine Garantie gibt es niemals für eine glückliche, gemeinsame Zukunft. Meine Eltern haben sich respektiert und über lange Jahre Vertrauen zueinander aufgebaut. Keiner hat den anderen je zu beherrschen versucht. Ob sie glücklich waren miteinander? Der große Unterschied für die Frauen heute ist, dass sie alle einen Beruf erlernen können. Das macht sie unabhängig und selbstbewusst. Schau dir nur mal deine Urgroßmutter Johanna an. Was hatte sie von ihrem Leben mit uns dreizehn Kindern und der vielen Arbeit? War sie zufrieden?«
Dann begann meine Tante, mir die Geschichte ihrer Mutter Johanna, der einzigen Tochter der Berganna, zu erzählen.
JOHANNA
ERSTES KAPITEL
Johanna war als Einzelkind aufgewachsen – eine Seltenheit zu der damaligen Zeit, in der man entweder ganz viele Kinder hatte oder gar
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