Herrgottswinkel
Folter.
»Nichts? Wie, nichts?«, wiederholte Johanna.
»Mein Vater hat uns Kindern etwas zu essen gemacht und die Tiere versorgt. Dann hat er uns ins Bett geschickt. Seine Frau war immer noch so voll, dass sie nicht allein vom Misthaufen herunterkam. Und so blieb sie da hocken, bis es schon spät am Abend war.«
»Mein Gott, was für eine furchtbare Frau!« Johanna war erschüttert.
»Und nun musst du mir etwas von dir erzählen«, forderte Engelbert sie auf.
Doch Johanna war in Eile. »Heute nicht mehr. Aber beim nächsten Spaziergang bin ich dran, versprochen.«
Sie rannte los. Zwar hatte sie über die Geschichte schon etwas schmunzeln müssen, doch irgendwie tat Engelbert ihr auch leid, und während der kommenden Woche ertappte sie sich immer wieder dabei, wie sie in Gedanken bei Engelbert und seiner schwierigen Kindheit war. Als sie ihm am Sonntag darauf von sich erzählt hatte, beendete sie ihre Geschichte mit dem Hinweis darauf, dass sie beide einen Elternteil früh verloren hätten und der oder die ›Neue‹ ihnen nur Unglück gebracht habe.
»Ich glaube, dass es schlimmer ist«, meinte sie, »wenn ein Kind seine Mutter verliert, denn eine Mutter bleibt immer eine Mutter.«
»Aber auch ein Vater bleibt immer ein Vater«, entgegnete Engelbert. »Und wir hatten einen guten, einen fleißigen Vater, der uns nicht nur alle geliebt, sondern bis zum Umfallen für uns gearbeitet hat. So konnte er jedem von uns schließlich einen Hof kaufen – sogar meiner Schwester! Er war immer für seine Kinder da.«
»Da magst du recht haben«, meinte Johanna. »Es ist immer schlimm, einen Elternteil zu verlieren. Am besten, man behält sie beide und sie ziehen einen gemeinsam groß.«
Engelbert nickte und legte den Arm um ihre Schulter.
»Lieber nicht.« Johanna entfernte sich schnell einen Schritt von ihm. »Ich will nichts überstürzen.«
Er blickte sie fragend an. »Also, ich könnte mir sofort ein Leben mit dir vorstellen. Du bist fünf Jahre jünger als ich, außerdem gesund und kräftig …«
»So, so«, erwiderte Johanna schnippisch. »Kaufst du dir gerade eine Kuh, oder was?« Etwas beleidigt war sie schon, zumindest hätte er sie auch hübsch finden können.
Obwohl sie sich in der kommenden Zeit immer öfter verabredeten, dauerte es lange, bis Johanna Engelbert die Erlaubnis gab, über eine Heirat zu sprechen. Sehr genau prüfte sie ihn, um zu sehen, ob er standhaft bleiben würde und fähig war, seine Ungeduld zu zügeln.
An ihrem vierundzwanzigsten Geburtstag machte Engelbert ihr einen Heiratsantrag, doch sie wollte nun erst noch mit ihrer Mutter reden, bevor sie ihm eine Antwort gab. Ohne Annas Einwilligung und Fürsprache hätte Johanna keinesfalls den Bund fürs Leben geschlossen. Für Engelbert war das schwer zu verstehen, schließlich war Anna bereits volljährig. »Ich heirate dich und nicht deine Mutter«, meinte er entrüstet. »Das geht doch nur uns zwei etwas an.«
»Stimmt, Engelbert, aber wegen mir hat meine Mutter in ihrem Leben viel Leid erfahren. Deswegen bin ich ihr das einfach schuldig. Ich will und ich kann sie nicht übergehen, denn sonst würdest du immer zwischen meiner Mutter und mir stehen, das sagt mir mein Gefühl, und das könnte ich nicht ertragen.«
Einige Tage später saß Johanna mit ihrer Mutter in Bolsterlang am Küchentisch und erzählte freudestrahlend von ihrem Verehrer.
»Musst du etwa heiraten?«, war Annas erste Frage.
»Ach, woher denn.« Johanna lachte. »Ich will ihn heiraten. Aus freien Stücken. Ich mag ihn sehr gut leiden und in seinem Haus hocken keine böse Schwiegermutter und keine zänkischen Geschwister. Dort werde ich von Anfang an die Frau und Herrin sein, die Mutter aller seiner Kinder. Und ich will viele Kinder haben, Mutter, ganz viele Kinder. Schon immer. Ich will Leben in unserem Haus und Kindergeschrei von früh bis spät. Könnt Ihr das verstehen?«
»Ich sehe, du machst nicht die gleichen Fehler, die ich gemacht habe, ich bin stolz auf dich, Johanna!«
Johanna bekam die Einwilligung ihrer Mutter und am sechsten Mai 1897 heiratete sie ihren Engelbert. Sie ließ sich ein schlichtes schwarzes Seidenkleid nähen, das vorne geknöpft und hochgeschlossen war. Eine schöne schwarze Stickerei verzierte die Vorderseite des Oberteils, die eng an liegenden Ärmel, die nur im oberen Schulterbereich gerafft waren, verliehen dem Kleid die besondere Note. Der Faltenrock betonte Johannas schmale Taille. Sie hatte sich einen Mittelscheitel ins Haar
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