Herrgottswinkel
kleinen Naschereien aus, dann marschierten wir an diesem warmen Frühlingstag durch das kleine Dorf, dem Waldrand entgegen. Auf dem Weg durch den Wald war es noch kühl, und ich war froh, dass ich meine roten Gummistiefel angezogen hatte, denn es gab viele Wasserpfützen auf dem Holperweg. Auch Tante Rosel hatte Gummistiefel an, unter der Woche trug sie stets eine weiße, gestärkte Kleiderschürze über einem Nylonpulli und einem schwarzen Faltenrock. Ihre schönen blonden Haare waren immer kunstvoll hochgesteckt. Nur am Sonntag und wenn sie in die Stadt zum Einkaufen ging, hatte sie ein dunkelblaues Kostüm und eine weiße Bluse an.
Auf unserem Weg durch den schwarzen und nach dem ergiebigen Regen dampfenden Wald brachen die dichten Äste die Sonnenstrahlen, und das Licht drang nur vereinzelt bis zu uns auf den Boden herab. Gerade war ein kleiner, braungrauer Hase über den Weg vor uns davongesprungen, ängstlich und durch unser Reden aufgeschreckt.
»Jetzt müssen wir ganz leise sein«, hörte ich Rosel zu den Kindern sagen, »vielleicht sehen wir auch noch ein Reh oder einen Fuchs.«
Sie wurden mucksmäuschenstill und warteten gespannt, doch sahen wir leider keine größeren Tiere mehr. Die Vögel zwitscherten, ohne sich von uns stören zu lassen, und schließlich erreichten wir die moorige Wiese, die über und über mit pechschwarzen Erdhügeln übersät war. Hier waren die Gräser im Gegensatz zu den anderen Feldern nur ganz spärlich gewachsen. Der Boden war weich und gab nach, sodass wir nur langsam vorwärtskamen.
Rechts war, ganz nah, die Hörnerkette zu sehen, und im Hintergrund konnte man die gewaltigen felsigen Gipfel vom kleinen Walsertal und den Oberstdorfer Bergen ausmachen, die noch über und über mit Schnee bedeckt in der Ferne blitzten. Hier im Tal, wo der Frühling bereits seinen Einzug gehalten hatte, strahlte das satte Gelb der Löwenzahnblüten wie tausend kleine Sonnen.
Wir gingen auf ein altes schmales Bauernhaus mit Holzschindeln und grünen Fensterläden zu. Eine steile, schiefe Steintreppe mit einem rostigen Geländer führte an seiner linken Seite zur Haustür hinauf. Das Haus war unbewohnt, aber noch immer stand davor die alte, etwas wackelige Holzbank, die Tante Rosel und ich so mochten. Sofort, als Rosel und ich uns gesetzt hatten, begannen die Kinder auf der nahe gelegenen Wiese herumzutollen, während wir die nachmittägliche Sonne genossen.
»Julia, du weißt, dass du immer bei mir willkommen bist«, begann Rosel. »Aber das ist doch keine Lösung deiner Probleme. Das ist eine Flucht, und so klärst du gar nichts in deinem Leben! Deine Kinder werden das auch nicht lange mitmachen, sie fragen mich schon dauernd, wann sie wieder zu ihrem Papa und nach Hause dürfen.«
»Aber dort halte ich es im Augenblick nicht aus. Wenn ich jetzt heimkehre, hat sich dort doch nichts geändert. Franz geht weiterhin den Weg des geringsten Widerstandes, und wir werden nur wieder zu streiten anfangen – und die Sache mit Eberhart und Agnes lässt sich durch meine Rückkehr auch nicht lösen. Ich werde nur noch unglücklicher, als ich schon bin, da bleibe ich lieber hier, wo du dann an meiner Seite bist.«
»Du weißt selbst, dass das Leben, wie du es momentan organisiert hast, kein Dauerzustand sein kann. Also stelle dich deinen Problemen, finde heraus, woher diese ganze Misere mit deinem Schwager und dessen Frau kommt. Tu es für dich und für deine Familie, die liegt dir doch außerordentlich am Herzen. Wenn Franz nicht bereit ist, das Problem aus dem Weg zu schaffen, dann musst eben du es tun. Auch für ihn und für eure Liebe musst du diese Kraft und Stärke jetzt auf bringen.«
»Gib mir noch etwas Zeit zum Nachdenken«, bat ich sie. »Ich will jetzt nichts mehr falsch machen, das würde uns alle nur noch weiter in den Abgrund ziehen.«
Nach einem kurzen Picknick brachen wir wieder auf und stiegen, ohne ein Wort zu sprechen, den langen Schotterweg an den grünen Wiesen und am Kinderheim vorbei, zurück dem Wald entgegen. Rosel ging sehr schnell, und ich kam mit den Kindern kaum nach. Als wir Schweineberg hinter uns gelassen hatten und endlich den Waldrand erreichten, setzte sie sich auf einen Baumstamm, der am Wegrand lag, und bat mich, neben ihr Platz zu nehmen. Die Kinder tobten schon wieder ausgelassen im Wald herum.
»Immer denkt man, die eigenen Probleme seien die größten. Doch auf dem Weg von dem alten Bauernhof hier herüber dachte ich mir, dass dir vielleicht die Geschichte
Weitere Kostenlose Bücher