Herrin der Dunkelheit
Wesen, die man sich vorstellen kann. Geben Sie mir recht? Was nun Ihre Befürchtung angeht, dass ich Ihren Bericht als eine Fabel oder eine Story betrachten könnte, mein lieber Franz, möchte ich Ihnen sagen, dass eine gute Story für mich der beste und größte Wahrheitstest ist, den es gibt. Ich mache überhaupt keinen Unterschied zwischen Realität und Phantasie, oder dem Objektiven und dem Subjektiven. Alles Leben und alles Bewusstsein sind letztlich eins, einschließlich Schmerz und Tod. Nicht das ganze Drama muss uns gefallen, und sein Ende ist niemals sehr erbaulich. Manche Dinge fügen sich harmonisch und wunderbar ineinander, und überraschenderweise mit schrillen Missklängen – die sind wahr –, und andere tun es nicht, und die sind lediglich schlechte Kunst. Sehen Sie das nicht ein?«
Franz wusste nicht sofort, was er darauf antworten sollte. Er selbst hatte de Castries’ Buch natürlich nicht den geringsten Glauben geschenkt, aber … Er nickte nachdenklich, aber kaum in Beantwortung der Frage. Er brauchte jetzt den scharfen, analytischen Verstand von Saul und Gun – und Cal.
»Und jetzt werde ich Ihnen meine Geschichte erzählen«, sagte Donaldus, überaus befriedigt. »Aber zuerst einen kleinen Schluck Brandy – den haben wir uns verdient. Nicht für Sie? Gut, dann nehmen Sie sich noch etwas Kaffee. Ein paar Kekse dazu? Ich werde sie holen.«
Franz spürte, dass eine leichte Übelkeit in ihm aufstieg, und sein Kopf begann zu schmerzen. Die einfachen, fast ungesüßten Kekse schienen etwas zu helfen. Er schenkte sich Kaffee nach, nahm diesmal auch Sahne und Zucker, die sein Gastgeber vorsorglich bereitgestellt hatte, und das half auch.
Seine Wachsamkeit ließ nicht nach, doch er begann, sich an sie zu gewöhnen, als ob das Bewusstsein von Gefahr für ihn zum Normalzustand würde.
18
Donaldus hob einen Finger, an dem ein Ring aus Silberfiligran steckte, und sagte: »Sie müssen daran denken, dass de Castries starb, als ich (und Sie) fast noch in den Windeln steckten. Fast alle meine Informationen stammten von zwei nicht sehr nahen und alles andere als geliebten Freunden von de Castries in seinen letzten Lebensjahren: George Ricker, ein Schlosser, der mit ihm Go zu spielen pflegte, und Herman Klaas, der einen Laden für antiquarische und gebrauchte Bücher besaß, eine Art romantischer Anarchist war und für eine Weile Technokrat. Und ein bisschen von Clark Ashton Smith. Ah, das interessiert Sie, nicht wahr? Nur ein bisschen, wie gesagt – Clark mochte nicht gern über de Castries sprechen. Ich glaube aber, dass er wegen de Castries und seiner Theorien die großen Städte mied, selbst San Francisco, und der Einsiedler von Auburn und Pacific Groove wurde. Und ich besitze einige Daten aus alten Briefen und Zeitungsausschnitten, aber nicht sehr viele. Die Menschen mochten nichts über de Castries schriftlich niederlegen, und sie hatten gute Gründe dafür, und in seinen letzten Jahren umgab de Castries selbst sein Leben mit Geheimnistuerei. Was sehr seltsam ist, da er seine wichtigste Karriere doch damit begonnen hatte, ein sensationelles Buch zu schreiben und zu publizieren. Mein Exemplar habe ich übrigens von Klaas bekommen – er hat es mir nach seinem Tod vermacht – und er hat es vielleicht unter dem Nachlass von de Castries gefunden – ich bin da nicht ganz sicher.
Außerdem«, fuhr Donaldus fort, »werde ich die Geschichte – zumindest stellenweise – in einem etwas dichterischen Stil erzählen. Lassen Sie sich dadurch nicht irritieren. Es hilft mir lediglich dabei, meine Gedanken zu ordnen und die wichtigsten Punkte auszuwählen. Ich werde um kein Iota von der Wahrheit abweichen, so wie ich sie entdeckt und erkannt habe; obwohl es Spuren von Paramentalen in meiner Geschichte gibt, und mit Sicherheit einen Geist. Ich bin der Meinung, dass alle modernen Städte, besonders die krassen, neu erbauten und hoch industrialisierten, Geister haben sollten. Geister sind ein zivilisierender Faktor.«
19
Donaldus nahm einen großzügigen Schluck Brandy, ließ ihn über seine Zunge rollen und lehnte sich bequem zurück.
»1900, als unser Jahrhundert anbrach«, begann er mit dramatischem Tonfall, »kam Thibaut de Castries in das sonnige, lebensfrohe San Francisco, wie ein finsteres Omen aus dem Reich der Kälte und des Kohlenqualms der Ostküste, die mit Edisons Elektrizität pulsierte, und aus der Sullivans Wolkenkratzer wuchsen. Madame Curie hatte gerade die Radioaktivität
Weitere Kostenlose Bücher