Herrin der Dunkelheit
sorgfältig einen neuen Brandy einschenkte.
»Dass ihre Kräfte nachzulassen beginnen würden, wenn sie die Freude am Leben verlören, und dann würden sie den Nasenlosen beim Arm nehmen und lachend abtreten.«
»Den Nasenlosen?«
»Londons Spitzname für den Tod – der Schädel unterhalb der Haut. Die Nase besteht aus Knorpeln, und deshalb ist der Totenschädel …«
Byers’ Augen weiteten sich, und er deutete plötzlich mit ausgestrecktem Finger auf seinen Gast.
»Franz!« sagte er aufgeregt. »Dieser Paramentale, den Sie gesehen haben … war er nasenlos?«
Als ob er gerade einen posthypnotischen Befehl erhalten hätte, schloss Franz die Augen, bog den Kopf zurück und streckte abwehrend beide Hände vor. Byers Worte hatten die fahlbraune, spitze Schnauze wieder mit plastischer Deutlichkeit in seine Erinnerung zurückgerufen.
»Sagen Sie …«, murmelte er verhalten, »so etwas nie wieder, ohne mich vorher zu warnen. Ja, er war nasenlos.«
»Mein lieber Franz ich werde es nicht wieder tun. Bitte, entschuldigen Sie. Ich habe mir nicht klargemacht, was für ein Schock dieser Anblick für Sie gewesen sein muss.«
»Schon gut, schon gut«, sagte Franz ruhig. »Vier der Akolyten sind also etwas vor Ablauf ihrer Zeit gestorben, Opfer ihrer gestörten Psyche – oder etwas anderem.«
»Und mindestens die gleiche Anzahl weniger prominenter Akolyten«, ergriff Byers wieder das Wort. »Wissen Sie, Franz, ich war sehr davon beeindruckt, wie in Londons letztem großem Roman, The Star Rover, der Geist so völlig über die Materie triumphiert. Durch eine unglaubliche strenge Selbstdisziplin gelingt es einem Lebenslänglichen in St. Quentin, im Geist durch die dicken Gefängniswände zu entkommen, frei und ungehemmt durch die Welt zu streifen, seine früheren Reinkarnationen wiederzuleben, seine Tode wieder zu sterben. Irgendwie lässt mich das an den alten de Castries der zwanziger Jahre denken, der allein in schäbigen, billigen Hotels hauste und über vergangene Hoffnungen, Erfolge und Desaster grübelte, grübelte, grübelte. Und – während er an grausame, endlose Foltern dachte – über das Unrecht, das ihm angetan wurde, und über Rache, und über … wer kann sagen, über was er sonst noch nachdachte. Auf welche Reisen er seinen Geist schickte?«
21
»Und jetzt«, sagte Byers und senkte seine Stimme, »will ich Ihnen über Thibaut de Castries’ letzten Akolyten und sein Ende berichten. Sie müssen sich dabei vor Augen halten, dass wir ihn uns in dieser Periode als einen gebeugten, alten Mann vorstellen müssen, verschlossen und schweigsam, der unter ständigen Depressionen litt und paranoid wurde. So hatte er, zum Beispiel, eine pathologische Angst, irgendwelches Metall zu berühren, da er glaubte, seine Feinde versuchten, ihn durch Stromschläge zu töten. Manchmal hatte er auch Angst, dass sie sein Leitungswasser vergiftet hätten. Er verließ nur noch selten das Haus, weil er befürchtete, dass ein Automobil plötzlich auf den Gehsteig springen und ihn überrollen könnte; und er war nicht mehr behände genug, um ausweichen zu können. Oder seine Feinde könnten ihm den Schädel zertrümmern indem sie einen Ziegelstein von einem Hochhaus auf ihn warfen. Er wechselte in dieser Zeit sehr häufig sein Hotel, um sie von seiner Spur abzubringen. Seine einzigen Kontakte mit früheren Bekannten waren seine hartnäckigen Versuche, alle Exemplare seines Buches zurückzuholen und zu verbrennen – aber es ist durchaus möglich dass er nebenher nach wie vor ein bisschen Erpressung betrieb, oder ganz schlicht bettelte. Ricker und Klaas waren Zeuge einer solchen Bücherverbrennung. Eine groteske Angelegenheit! – er verbrannte zwei Exemplare in seiner Badewanne. Sie erinnerten sich daran, das Fenster aufgerissen und den Rauch hinausgewedelt zu haben. Mit einer oder zwei Ausnahmen waren sie in jener Periode seine einzigen Besucher – selbst abseitige, exzentrische Typen und auch schon Versager, obwohl sie zu der Zeit erst in den Dreißigern waren.
Und dann kam Clark Ashton Smith – etwa im gleichen Alter, doch überquellend von Poesie, Fantasie und kreativer Energie. Clark war von George Sterlings grausamem Tod sehr getroffen worden und fühlte sich dazu gedrängt, alle Freunde und Bekannten seines poetischen Mentors aufzusuchen, die er finden konnte. De Castries spürte das fast erloschene Feuer wieder aufflammen. Hier war ein neuer der brillanten, vitalen Menschen, die er immer gesucht hatte. Er
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