Herrin der Falken - 3
raschelte im Stroh, und Romilly ertappte sich dabei, daß
sie aus den Augen des Vogels mit echtem Hunger nach dem
kleinen Tier blickte…
Der Morgen war nahe. Im Garten draußen zirpte ein verschlafener Geistervogel, und es gurrte aus dem Schlag der halb
erwachten Tauben, die manchmal für besondere Gäste oder für
Kranke gebraten wurden. Romilly war schon unterwegs, bevor sich der Gedanke deutlich formuliert hatte. Sie hörte sich selbst sagen: Der Geflügelwärter wird sehr böse auf mich sein, ich darf mich nicht ohne Erlaubnis an den Tauben vergreifen. Aber der Hunger, der durch ihren Geist, durch den Vogelgeist flutete, ließ sich nicht verleugnen. Romilly warf das Stück stinkiges Rabbithorn fleisch in die Mistgrube. Dort mochte es verfaulen oder von einem Raubtier oder einem der Hunde, die weniger eigen mit ihrer Nahrung waren, gefunden werden. Sie streckte ihren Arm in das Geflatter des Taubenschlags und holte eine zappelnde, kreischende Taube heraus. Die Angst des Tiers erfüllte sie mit etwas, das halb Schmerz und halb Aufregung war. Adrenalin floß durch ihren Körper und verkrampfte ihre Beine und Hinterbacken in der vertrauten Furcht. Aber Romilly war auf einem Gutshof aufgewachsen und nicht zimperlich. Geflügel war für den Topf und bekam dafür sichere Behausungen und lebenslanges Futterkorn. Mit kurzem Bedauern hielt sie die zappelnde Taube zwischen den Händen. Dann nahm sie sie in eine Hand, während sie den Handschuh wieder anzog. Ohne Worte schleuderte sie in das Falkengehirn ein schnelles scharfes Bild von Hunger und frischer Atzung… drehte der Taube mit einer einzigen entschlossenen Bewegung den Hals um und hielt Preciosa den noch warmen Körper hin. Einen Augenblick lang hatte es den Anschein, als werde Preciosa von neuem mit wildem Flügelschlagen reagieren. Romilly wurde im Gedanken an ihr Versagen schon ganz übel. Doch da neigte der Falke den Kopf. So schnell, daß Romilly mit den Augen nicht folgen konnte, stieß er mit dem starken Schnabel zu. Das Mädchen taumelte unter der Wucht. Blut spritzte. Der Falke stieß noch einmal zu und begann zu kröpfen. Romilly schluchzte laut auf. Ekstatische Kraft erfüllte sie, als sie den Vogel an dem frischen Fleisch reißen, schlucken, reißen fühlte. »Oh, du Schönheit«, flüsterte sie. »Du Schönheit, du
Kostbarkeit, du Wunder!«
Der Falke war fertig. Sie spürte das Einschlafen des Hungers,
und sogar ihr eigener Durst wich von ihr. Nun setzte sie ihn
wieder auf den Block und streifte ihm eine Haube über den
Kopf. Preciosa würde jetzt schlafen, und, wenn sie erwachte,
sich erinnern, woher ihre Nahrung kam. Romilly mußte Befehl hinterlassen, daß die Atzung für diesen Falken sehr frisch zu sein hatte. Sie wollte eben getötete Vögel oder Mäuse für Preciosa haben, bis der Falke für sich selbst jagen konnte. Das würde nicht lange dauern. Er war ein intelligenter Vogel, sonst hätte er nicht so lange gekämpft. Romilly, immer noch in lockerer Verbindung mit dem Vogel, war sich sicher, daß Preciosa sie jetzt als Futterquelle erkannte. Und eines Tages wür
den sie zusammen jagen.
Ihr Arm fühlte sich an, als werde er gleich abfallen. Sie schlüpfte aus dem schweren Handschuh und wischte sich die Stirn mit
dem schweißnassen Arm. Außerhalb des Falkenhauses war es
hell; sie hatte die ganze Nacht hier gestanden. Kaum hatte sie
das Licht bewußt wahrgenommen – bald würde der Haushalt
zum Leben erwachen –, sah sie ihren Vater und Davin im
Eingang stehen.
»Mistress Romilly! Seid Ihr die ganze Nacht hier gewesen?«
fragte Davin entsetzt und besorgt.
Die Schläfen ihres Vaters waren angeschwollen vor Zorn.
»Du ungezogenes Mädchen, ich hatte dir befohlen, ins Haus zu
gehen! Glaubst du, ich lasse mir diesen Ungehorsam von dir
bieten? Komm heraus und laß den Falken.«
»Der Falke hat gekröpft«, sagte Romilly. »Ich habe ihn für dich
gerettet. Bedeutet das gar nichts?« Ihre ganze Wut kehrte
zurück, und wie ein flügelschlagender Falke explodierte sie:
»Schlag mich, wenn du willst – wenn es dir wichtiger ist, daß ich
mich wie eine Dame benehme und einen unschuldigen Vogel
sterben lasse! Wenn das bedeutet, eine Lady zu sein, hoffe ich,
daß ich nie eine werde! Ich habe das Laran –«, in ihrer Erregung
benutzte sie das Wort, ohne nachzudenken, »– und ich glaube
nicht, daß die Götter Fehler machen. Wenn ich es habe, heißt
das, daß ich es auch benutzen soll! Es ist nicht mein Verdienst,
daß ich die MacAran-Gabe besitze, die
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