Herrin der Falken - 3
meinen Brüdern fehlt.
Wie konnte ich aber mit dieser Gabe weggehen und Preciosa
sterben lassen?« Sie hielt inne und würgte das Schluchzen
nieder, das ihre Stimme völlig zu ersticken drohte.
»Sie hat recht, Sir«, sagte der alte Davin langsam. »Sie ist nicht
die erste Lady von MacAran, die die Gabe hat, und sie wird, die
Götter mögen es geben, nicht die letzte sein.«
Der MacAran schoß ihm einen bösen Blick zu. Trotzdem trat er
vor, ergriff eine Feder und streichelte dem schläfrigen Falken sanft die Brust. »Ein schöner Vogel«, meinte er endlich. »Wie hast du sie genannt? Preciosa? Auch ein schöner Name. Das hast du gut gemacht, Tochter.« Es war ihm gegen seine Absicht entschlüpft. Dann verfinsterte sich sein Gesicht, und es war wie die Zornwellen, die von dem Falken ausgegangen waren. »Mach, daß du hier wegkommst! Geh ins Haus, bade und zieh dich um – ich will dich nicht schmutzig wie eine Stallmagd haben! Geh und ruf deine Zofe und laß dich von mir nicht wieder außerhalb der Haustür erwischen!« Als sie an ihm vorbeiging, spürte sie, daß er den Impuls unterdrückte, sie zu schlagen – er brachte es nicht über sich, irgend etwas zu schlagen, und sie hatte das Leben des Falken tatsächlich gerettet. Aber in seinem Zorn und seiner Frustration brüllte er ihr mit voller Lungenkraft nach: »Darüber werde ich später noch mit dir reden, Romilly, verdammt noch mal!«
2.
Romilly starrte aus dem Fenster, den Kopf in den Händen. Die große rote Sonne stieg vom Mittagspunkt nieder. Zwei der kleinen Monde standen als blasse Tageslicht-Reflektionen am Himmel. Die ferne Linie der Kilgardberge lockte ihre Gedanken hinaus und hinauf, wo sie mit den Wolken und Vögeln flogen. Eine Seite mit fertigen Additionen lag vor ihr auf dem hölzernen Schreibtisch, dazu eine noch feuchte Seite mit saubergeschriebenen Maximen aus dem Cristofero-Buch der Bürden. Romilly sah sie nicht, und ebensowenig hörte sie die Stimme ihrer Erzieherin. Calinda schalt mit Mallina wegen ihrer schlimm verklecksten Seiten.
Heute nachmittag, wenn ich Preciosa mit dem Federspiel trainiert habe, wird Windracer gesattelt. Ich nehme die verkappte Preciosa vor mir auf den Sattel, damit sie sich an den Geruch und die Bewegungen des Pferdes gewöhnt. Ich kann ihr noch nicht soweit trauen, daß ich sie frei fliegen lasse, doch lange wird es nicht mehr dauern…
Auf der anderen Seite des Raums scharrte ihr Bruder Rael geräuschvoll mit den Füßen. Calinda verwies es ihm mit einem stummen Kopf schütteln. Rael, so dachte Romilly, war jetzt schrecklich verwöhnt – er war so gefährlich krank gewesen, und heute war sein erster Tag im Schulzimmer. Stille senkte sich auf die Kinder nieder. Nur das harte Kratzen von Mallinas Feder und das fast lautlose Klappern von Calindas Stricknadeln waren zu hören. Die Erzieherin machte eine wollene Unterweste für Rael. Und wenn sie damit fertig ist, dachte Romilly nicht ohne Bosheit, gilt es nur noch das Problem zu lösen, wie sie Rael dazu bringt, sie zu tragen!
Die Augen glasig vor Langeweile, blickte Romilly aus dem Fenster, bis das Schweigen von Mallinas lautem Jammern gebrochen wurde.
»Verfluchte Feder! Sie verspritzt Kleckse wie Nüsse im Herbst!
Jetzt habe ich schon wieder eine Seite versaut!«
»Aber Mallina!« rügte die Erzieherin. »Romilly, lies deiner
Schwester die letzte der Maximen vor, die du aus dem Buch der
Lasten abgeschrieben hast.«
Romilly, gegen ihren Willen ins Schulzimmer zurückgeholt,
seufzte. Mißmutig las sie: »Nur ein schlechter Arbeiter gibt
dem Werkzeug in seiner Hand die Schuld.«
»Es ist nicht die Schuld der Feder, wenn du nicht ohne Kleckse
schreiben kannst«, erklärte Calinda, trat zu Mallina und führte
die Hand ihrer Schülerin, die die Feder umklammerte. »So
mußt du deine Hand halten.«
»Mir tun die Finger weh«, murrte Mallina. »Warum muß ich
überhaupt schreiben lernen, mir die Augen verderben und meine
Hände anstrengen? Keine der Töchter von Hohenklippen kann
schreiben oder lesen, und sie stehen deswegen nicht schlechter
da. Sie sind bereits verlobt, und es tut ihnen keinen Schaden!« »Du solltest dich glücklich preisen«, mahnte die Erzieherin
streng. »Euer Vater wünscht nicht, daß seine Töchter in Unwissenheit aufwachsen, zu nichts anderem fähig als zu nähen,
zu spinnen und zu sticken, ohne auch nur soviel zu lernen, daß
sie zur Erntezeit ›Apfel-Nuß-Konserve‹ auf ihre Krüge schreiben können! Als ich ein Mädchen war, mußte ich
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