Herrin der Falken - 3
in tödlichen Schrecken. »Oh, mein Lämmchen, mein Kleines, was ist dir zugestoßen? Dein Rücken – dein Reitkleid –«
»Vater hat mich geschlagen.« Romilly brach in schreckliches Weinen aus. »Er hat mich geschlagen, weil Darren meinen Falken verloren hat.«
Gwennis weichte die Fetzen des Kleides von Romillys Rücken und behandelte die aufgerissene Haut und das verletzte Fleisch mit Öl und Kräutersalbe. Sie steckte das Mädchen in ein altes Gewand aus weichem Stoff und brachte ihr heiße Suppe ans Bett. Romilly hatte zu zittern begonnen und fühlte sich krank und fiebrig. Gwennis brummelte vor sich hin. Dann fragte sie kopfschüttelnd: »Wie hast du es fertiggebracht, deinen Vater so zu erzürnen? Er ist ein freundlicher Mann, er muß außer sich gewesen sein, um so etwas zu tun!« Romilly war nicht fähig zu antworten. Ihre Zähne klapperten, und sie konnte nicht aufhören zu weinen, so sehr sie es versuchte. Beunruhigt holte Gwennis Lady Luciella, die selbst über Romillys Striemen und offene Wunden und das verdorbene Kleid weinte. Doch sie wiederholte, was Gwennis gesagt hatte: »Wie in aller Welt konntest du deinen Vater so erzürnen? Nie hätte er das getan, wenn du ihn nicht über jedes erträgliche Maß hinaus provoziert hast!«
Sie geben mir die Schuld, dachte Romilly, sie alle geben mir die Schuld, daß ich geschlagen worden bin…
Und jetzt ist keine Hoffnung mehr für mich. Preciosa ist fort. Meinem Vater liegt mehr daran, auf gutem Fuß mit Aldaran zu stehen, als an mir. Er wird Darren rücksichtslos schlagen, weil Darren nicht meine Gaben hat, aber er will mich nicht sein lassen, was ich bin, noch Darren, was er ist. Es kümmert ihn nicht, was wir sind, er will uns so haben, wie er sich uns wünscht. Sie hörte weder auf Luciellas freundliche Worte noch auf Gwennis’ zärtliches Zureden. Sie konnte nicht aufhören zu weinen, sie weinte, bis ihre Augen wund waren und ihr Kopf schmerzte und ihre gerötete Nase tropfte. Und schließlich weinte sie sich in den Schlaf.
Romilly erwachte spät in der Nacht. Ganz Falkenhof war still, und das große violette Gesicht Kyrrdis’ hing voll und leuchtend in ihrem Fenster. Der Kopf tat ihr immer noch schrecklich weh, und ihr Rücken stach und brannte trotz der Heilsalbe, die Gwennis aufgetragen hatte. Romilly war hungrig. Sie entschloß sich, nach unten zu schleichen und sich aus der Küche etwas Brot und kaltes Fleisch zu holen.
Mein Vater haßt mich. Er hat Ruyven mit seiner Tyrannei aus dem Haus getrieben. Aber Ruyven ist jetzt wenigstens frei und lernt in einem Turm zu sein, was er sein muß. Ruyven hatte recht. Außer Reichweite von Vaters eisernem Willen braucht er nicht zu sein, was Vater will und er nicht ist. Plötzlich überwältigte Romilly das Verlangen, ebenso frei zu sein, so frei wie Preciosa in der Wildnis, damit sie sein konnte, was sie war. Zitternd zog sie eine alte Strickweste über ihren wunden Rükken und legte Jacke und Hose an. Geräuschlos schlüpfte sie hinaus in den Flur, die Stiefel in der Hand. Es waren Damenstiefel, und eine Frau, das hatte sie ihr ganzes Leben lang gehört, war allein auf den Straßen nicht sicher. Jetzt wußte sie auch, warum, seit Dom Garris sie zu Mittsommer angesehen hatte. Ruyvens Zimmer mit allen Dingen, die er zurückgelassen hatte, war nie mehr betreten worden. Romilly stahl sich hinein, nahm aus einer Kommode eins seiner einfacheren Hemden und eine alte Lederhose, die ihr ein bißchen zu groß war, zog Darrens zu eng sitzende Hose aus und stieg in Ruyvens weite. Sie versorgte sich auch mit einem Mantel und einer ledernen Überjacke. Noch einmal kehrte sie in ihr Zimmer zurück, um ihren eigenen Falkenhandschuh zu holen. Als sie daran dachte, daß Preciosa fort war, hätte sie ihn beinahe liegengelassen. Aber sie sagte sich: Eines Tages werde ich wieder einen Falken haben, und der Handschuh soll mich an
Preciosa erinnern. Bevor sie ihren alten Dolch in die Scheide steckte, schnitt sie sich das Haar bis in den Nacken ab. Draußen warf sie den Zopf tief in die Mistgrube, damit sie ihn nicht fanden. Sie hatte Ruyvens Tür wieder abgeschlossen, und sie würden niemals daran denken, seine alten Sachen durchzusehen und die Hemden nachzuzählen. Ihr Reitkleid nahm Romilly mit, so daß sie nach einem Mädchen mit langem Haar in einem grünen Reitkleid suchen würden, nicht nach einem unauffälligen Jungen in einfachen alten Sachen. Im Stall suchte sie unter anderem ausrangiertem Geschirr einen verstaubten
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