Herrin der Finsternis Roman
schien ihn zu bedrücken, denn sie fühlte, wie er sich versteifte. »Deshalb fiel es mir zunächst sehr schwer, meine Wolfsgestalt für längere Zeit beizubehalten. Aber ich habe gelernt, meine magischen Kräfte auch in meinen Wolfskörper zu übertragen. Deshalb kann ich ein Wolf bleiben, wenn ich kämpfe oder schlafe oder verwundet werde.«
»Und die Tätowierung auf deinem Gesicht?«
»Eigentlich ist es ein Muttermal.« Er atmete tief durch, und das Zeichen erschien auf seiner Wange. Mit einer Fingerspitze zeichnete Bride die schönen Schriftzeichen nach. »Wenn ein Arkadier die Pubertät überstanden hat, wählen die Schicksalsgöttinnen Einzelne aus, die stark genug sind, die Welt zu schützen. Diese Wachtposten retten die Arkadier und die Menschen vor Mördern und gefährlichen Tieren.«
Mühsam schluckte sie, als sie verstand, was er ihr erzählte. »Also hast du bei den Wölfen gelebt, bis du ein Mensch wurdest. Und dann wurdest du ihr schlimmster Feind.«
»Ja.«
Ihr Herz flog ihm entgegen. »Wie schrecklich musst du gelitten haben! Warum bist du nicht fortgegangen?«
»Wahrscheinlich hätte ich das tun sollen. Aber ich war jung und verängstigt. Über die Arkadier wusste ich nichts, über die Menschen noch weniger. Vergiss nicht, in meiner Kindheit war ich ein Wolf. Unsere Jungen werden niemals in die Nähe echter Menschen gelassen. Also hatte ich keine Ahnung, wie ich mich in deiner Welt verhalten sollte. Deshalb bat ich Acheron um Hilfe, und er führte mich in die Vergangenheit – zu meiner Mutter. Ich dachte, wenn ich ihr erklärte, ich sei kein Tier mehr, würde sie mir helfen, mein neues Leben zu meistern.«
»Doch das tat sie nicht.«
»Nein, sie nannte mich einen Lügner und jagte mich davon.«
Wie gern würde ich Bryani den Hals umdrehen, dachte sie. Welche Mutter konnte so grausam sein? Andererseits – überall auf der Welt wurden grausame Verbrechen begangen. »Und mit deinem Bruder Fury geschah das Gleiche, auf umgekehrte Weise.«
»Ja.«
Welchen der beiden das schlimmere Los getroffen hatte, wusste sie nicht. Vermutlich Fury. Im Gegensatz zu Vane hatten ihm keine Geschwister beigestanden. »Und nach der Begegnung mit Bryani bist du zu deinem Rudel zurückgekehrt?«
Vane nickte. »Etwas anderes kannte ich nicht. Von Fang und Anya konnte ich wohl kaum verlangen, meinetwegen wegzugehen. Ich dachte, wenn mein Vater mich tötete, hätten die beiden wenigstens ein Zuhause, und die Wölfe würden sie schützen.«
»Kannte niemand die Wahrheit über die Veränderung nach deiner Pubertät?«
»Nur Fang und Anya. Und offensichtlich Fury. Als er zu uns kam, hätte ich es merken müssen. Aber er vertraute sich niemandem an. Stefan und die anderen wollten ihn in ein Omega-Tier verwandeln. Das ließ er nicht zu. Was ihm an magischen Kräften fehlt, gleicht er durch brutale Kraft aus – und die Bereitschaft, jeden zu töten, der sich in seinen Weg stellt.«
Die Finger in Vanes Haar geschlungen, versuchte Bride seine Welt zu verstehen. »Ein Omega-Tier?«
Vane küsste ihren Bauch. »In jedem Rudel gibt es einen Sündenbock, meistens einen männlichen, auf dem die anderen Wölfe herumhacken. Diese bedauernswerten Geschöpfe nennt man Omega-Wölfe.«
»Wie schrecklich …«
Er richtete sich auf und starrte sie an. »Nun, es liegt nun einmal in unserer Natur. Wir sind Tiere. Du willst alles über meine Welt wissen. Und ich beantworte einfach nur deine Fragen. Selbst wenn dir manches missfällt.«
Vergeblich versuchte sie sich den Vane, den sie kannte, als gnadenlosen Wolf vorzustellen. Das fiel ihr schwer, denn sie las so viel Liebe und Leidenschaft in seinen Augen. »Hast du jemals ein Omega-Tier gequält?«
Er schüttelte den Kopf. »Meistens stellte ich mich zwischen den Omega-Wolf und die anderen. Deshalb hasst mich das Rudel. Und Fang fand immer, ich wäre ein Idiot, weil ich mich in solche Dinge einmischte.«
Wieder einmal flog ihm ihr Herz entgegen. Sogar als Wolf war er gütig und voller Mitgefühl. Natürlich hätte sie nicht an ihm zweifeln dürfen. »Ich finde dich nicht idiotisch, sondern bewundernswert.«
Zur Belohnung hauchte er einen Kuss auf ihre Lippen.
Jemand klopfte an die Tür.
»He, Vane!«, rief Otto. »Ich wollte euch nur sagen, dass in einer Stunde das Dinner serviert wird, falls ihr mit Valerius speisen wollt. Also seid pünktlich im Salon, oder er dreht durch.«
»Sollen wir uns fürs Dinner in Schale werfen?«, fragte Vane. »Verlangt er das?«
»Natürlich.
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