Herrin der Lüge
getroffen. Ihre Zweifel verwandelten sich in morbide Faszination.
»Kann man es anfassen?«
»Wie gesagt«, kicherte Elegeabal, »es beißt dich nicht.«
Sie zog Faun mit sich, als sie sich dem Ungeheuer näherte, und streckte die linke Hand nach dem kantigen Wangenknochen des Echsenschädels aus.
»Das fühlt sich nicht an wie Knochen. Eher wie –«
»Stein«, bestätigte Elegeabal. »Die Zeit hat die Gebeine zu Stein gemacht. Ist das nicht ein Beweis für die Macht dieser Wesen? Wir Menschen werden zu Staub. Aber diese da … sie werden eins mit den Bergen und überdauern die Jahrtausende!«
Von nahem war der Kopf so riesig, dass Faun seinen Blick daran entlangstreifen ließ, um jedes Detail zu erfassen. Von den halbrunden Wölbungen, wo einst Zähne gesessen hatten, bis zu der gesplitterten Bruchkante des zertrümmerten Hinterkopfs maß das Drachenhaupt mehr als vier Ellen – so viel wie drei Pferdeschädel. Die Augenhöhlen waren im Verhältnis dazu winzig, kaum größer als die eines Menschen. Er stellte sich kleine Schlitze vor, schwefelgelb und tückisch, aus denen geschmolzenes Silber tränte.
Tiessa ließ Fauns Hand los.
»Er sieht aus, als hätte man ihm den Schädel eingeschlagen«, stellte sie fest. »Wer sonst, wenn nicht Menschen –« Sie brach ab, als der Traumdeuter lächelte.
»Damit kommen wir zum Kern eurer Schwierigkeiten.« Er ging zu einer der Werkbänke und öffnete eine kleine Schatulle. Rasch nahm er etwas heraus und umschloss es mit der Faust, während er sich wieder zu ihnen umdrehte. »Nicht den Drachen müsst ihr fürchten, denn er ist lange tot. Aber es gibt noch eine andere Macht an den Wurzeln des Gebirges. Manchmal regt sie sich, und dann stürzen Lawinen von den Gipfeln und begraben Dörfer und ganze Festungen unter sich. Ich glaube auch, dass sie es war, die den großen Drachen und sein Junges getötet hat. Lange hat dieses Wesen geschlafen … doch jetzt ist es von Neuem erwacht. Um es aus seinem Schlaf zu reißen, hat es einer Kraft bedurft, die nicht menschlich ist.«
Faun warf Tiessa einen Seitenblick zu. »Geschwätz«, knurrte er abfällig.
Elegeabal fuhr unbeirrt fort: »Eine Kraft wie jene, die erst kürzlich durch diese Schlucht gekommen ist. Eine Kraft, die im Herzen oder Verstand oder gar in der Seele eines ganz bestimmten Mädchens haust.«
Fauns Mund klappte auf. »Saga?« Mit einem Schnauben winkte er ab.
»Ich habe versprochen, euch zu warnen, und das tue ich nun«, sagte Elegeabal ungerührt. »Ob du mir glaubst, Gaukler, oder nicht … nun, wie du vorhin gesagt hast: Das ist tatsächlich nicht meine Angelegenheit. Die Anwesenheit deiner Schwester hat etwas wachgerüttelt. Ein Talent wie das ihre kommt nicht ohne Preis. Ich weiß nicht, was es ist. Aber es ist unnatürlich. Und es ist nichts Gutes, das ganz gewiss nicht.«
»Saga ist nicht schlecht. Sie mag manchmal –«
Elegeabal unterbrach ihn mit einem krächzenden Lachen. »Nicht schlecht? Sie führt all diese Mädchen geradewegs ins Verderben! Aus welchem Grund auch immer, aber sie tut es.«
»Sicher wird sie dazu gezwungen!«, entgegnete Faun zornig. »Sie würde so etwas niemals freiwillig tun!«
Tiessa berührte Faun am Arm. Ihr stummer Blick schien ihn anzuflehen, jetzt nichts Falsches zu sagen: Lass dich ein auf sein Spiel, wenn ihn das glücklich macht. Alles ist recht – solange es ihn dazu bringt, auch uns sicher durch die Via Mala zu bringen.
»In der Schlucht bebt die Erde«, sagte Elegeabal. »Der ganze Berg erzittert, und wahrscheinlich auch noch andere rundherum. Vor ein paar Tagen ist ein ganzer Trupp von Männern nicht aus der Via Mala zurückgekehrt. Der Schläfer unter dem Berg ist erwacht. Er regt sich und erschüttert das Gestein. Die Via Mala hat ihren Namen nicht von ungefähr. Die Römer haben geahnt, was sich dort unten verbirgt – in der Höhle des Drachen haben sie sogar ein Heiligtum für ihren Gott Mithras errichtet, damit er sie beschützt.«
Tiessa trat einen Schritt zurück und stieß dabei mit der Schulter gegen einen Knochen. Sogleich schwankte und zitterte das gesamte Gerippe in seiner Aufhängung.
Elegeabal öffnete seine Hand. Eine Lederschlaufe fiel heraus, an der ein matt glänzender Anhänger aus Metall befestigt war. Kupfer, so schien es im schwachen Licht. »Das hier kann euch beschützen.«
»Ein Amulett?«, flüsterte Tiessa.
Faun musterte sie skeptisch. Sie würde sich doch von so einem Hokuspokus nicht beeindrucken lassen? »Das soll uns
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