Herrin der Lüge
jetzt über den Weg zu laufen mochte böse enden. Eilig folgten sie dem Alten in den Schutz des Gemäuers.
Drinnen war es dunkel bis auf eine Öllampe, die inmitten eines offenen Wassertrogs schwamm.
»Mag die Dunkelheit nicht«, sagte Elegeabal. »Lass deshalb immer ein Licht brennen, auch wenn ich fortgehe. Hab zu viel gehört im Dunkeln, unten in der Schlucht. Zu viele seltsame Geräusche und Stimmen und Schreie.«
»Schreie?«, flüsterte Tiessa.
Der Traumdeuter kicherte. »Ich kann euch helfen, dass ihr heil hindurchkommt.«
Faun funkelte ihn an. »Warum versuchst du dann, uns Angst zu machen?«
Elegeabal fuhr herum. »Weil es gut ist, dort unten Angst zu haben, Junge! Die Angst wird dir das Leben retten. Dir und deiner Frau!« Ein wenig milder setzte er hinzu: »Seid ihr wirklich verheiratet?«
»Das ist nicht deine Angelegenheit.«
»Nein«, antwortete Elegeabal schulterzuckend. »Ist es nicht. Aber denkt daran, dass Sünde andere Sünde anzieht. Da unten sogar noch ein wenig mehr als anderswo.« Wieder kicherte er, und Faun beschloss, die unheilschwangeren Bemerkungen des Alten zu ignorieren. Er wünschte sich, Tiessa könnte das ebenfalls tun, doch sie war noch bleicher geworden, seit sie das Gebäude betreten hatten. Was allerdings – wie er nun erkannte – nicht zwangsläufig mit den Worten des Traumdeuters zu tun haben musste.
Das Haus wirkte von innen größer als von außen. Früher mochte es sich um einen weitläufigen Stall oder eine Scheune gehandelt haben, doch heute diente es allein dem alten Mann zu seinem wunderlichen Treiben. An zwei Wänden erstreckte sich eine Art Werkbank, tiefer als ein gewöhnlicher Tisch und voll gestellt mit fremdartigen Apparaturen aus Metall und Ton. Bei manchen der kugelförmigen Gerätschaften schien es sich um astronomische Modelle zu handeln, rund geschmiedete Gitter, die nach geheimnisvollen Gesetzmäßigkeiten miteinander verzahnt waren. Es gab auch Scheiben, in die bewegliche Kugeln eingelassen waren, und ganz und gar unbeschreibliche Mechanismen aus Kupfer, Blei, sogar aus Stein. Überall türmten sich Berge von Schriftrollen und gebundenen Codices, lose Pergamente, Stoffbahnen mit eingenähten Buchstaben und gegerbte Häute, auf die Sternbilder und astronomische Schemata aufgemalt waren.
Das alles jedoch war nichts gegen das gewaltige Konstrukt, das den weitaus größten Teil des düsteren Saales beherrschte: ein Gerippe – oder Teile davon –, größer als ein Pferdegespann. Es stand aufrecht auf mehreren Beinen, deren Zahl auf den ersten Blick ein Rätsel blieb. Ein mächtiger Schädel, dreieckig, mit leeren Augenhöhlen und fehlendem Hinterkopf, glotzte ihnen entgegen. Erst als Faun genauer hinsah, bemerkte er, dass all diese Gebeine an Fäden und Ketten von den Dachbalken hingen und durch Seile miteinander verbunden waren. Niemand hätte dieses monströse Ding für lebendig halten können; dafür fehlten zu viele seiner Teile, auch wenn Elegeabal versucht hatte, sie durch grob geformte Platzhalter aus Holz und Lehm zu ersetzen. Doch allein der Gedanke, dass eine Kreatur dieser Größe jemals auf Erden gewandelt war, ließ Faun erstarren.
»Was ist das?«, fragte er heiser.
»Ein Drache.« Elegeabal sagte es so gelassen, als spräche er über das Gerippe einer Kuh. »Ein Drachenjunges.« Und nun klang er beinahe abfällig.
Tiessas Hand suchte Fauns und umklammerte sie. So standen sie da, noch immer nahe der Tür, die Elegeabal jetzt hinter ihnen zuschob, und wagten nicht, sich dem toten Ungetüm zu nähern.
»Es beißt nicht«, sagte der Traumdeuter. »Wahrscheinlich hat es das nie. Jedenfalls nichts, das es selbst gejagt hätte. Dafür war es zu klein, als es starb.«
»Zu klein?«, entfuhr es Faun.
Elegeabal lachte. »Ihr solltet die Knochen seines Vaters sehen. Das ist ein Drache, sag ich euch! Er war der wahre Herrscher dieses Gebirges. Er liegt unten in der Schlucht, in einer Höhle. Der Fels hat sich um ihn geschlossen wie ein Sumpf, als wäre er davon verschluckt worden. Ein paar Ecken habe ich freigelegt, aber das ist gerade einmal genug, um zu ahnen, wie gigantisch er war.« Er warf resigniert die Hände in die Höhe. »Ich bin zu alt für so was. Wenn ich ihn dreißig oder vierzig Jahre früher gefunden hätte … Aber so muss ich mich mit dem da begnügen.«
Faun presste die Lippen aufeinander, unsicher, ob er dem Alten Glauben schenken oder ihn lieber für wahnsinnig halten wollte. Tiessa hingegen hatte ihre Entscheidung
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