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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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seine Schritte. Gleich darauf wurde die Tür des Schuppens geöffnet. Ein kalter Wind schlug gegen den Vorhang und presste ihn in ihre Gesichter.

Falkenflug
     
    Lange, viel zu lange rührte sich nichts. »Wo ist er hin?«, fragte Faun gepresst, als er das Schweigen nicht länger ertrug.
    Tiessa verlagerte ihr Gewicht in dem engen Verschlag auf das andere Bein. »Ich muss wissen, was da draußen los ist.«
    »Vielleicht nur ein Streit unter den Wächtern.«
    »Und wo bleibt dann der alte Mann?«
    Es gab Antworten darauf, harmlose Erklärungen, doch das Ziehen in seinen Eingeweiden sagte Faun, dass Tiessas Furcht berechtigt war. Er presste die Lippen aufeinander und horchte hinaus in die Halle.
    Tiessa schob den Vorhang einen Spaltbreit beiseite. Faun verrenkte sich den Hals, um ebenfalls etwas sehen zu können, aber seine Position war zu ungünstig. »Und?«
    »Niemand da. Die Tür steht offen.«
    Während Faun von Saga und dem Lügengeist erzählt hatte, hatte Elegeabal weitere Öllampen entzündet, doch ihr Schein reichte nicht aus, um den ganzen Raum zu erhellen. Im Halbdunkel der Halle mochte alles Mögliche lauern, nachdem die Tür minutenlang offen gestanden hatte.
    »Ich gehe raus«, sagte Tiessa.
    »Nein!«
    »Ganz bestimmt bleib ich nicht hier sitzen und warte, bis sie mich finden.«
    Er hielt ihre Hand noch fester. Plötzlich war es gar nicht mehr so schwer, sich einzugestehen, wie groß seine Angst um sie war. »Selbst wenn es der Falkner und seine Männer wären – sie haben eine ganze Burgmannschaft gegen sich!«
    »Umso besser.«
    »Das ist verrückt.«
    »Du kannst ja hier bleiben.« Sie streifte seine Finger ab. »Tiessa … Ich will nicht, dass du dort hinausgehst. Ich will …« Er zögerte. »Ich will dich nicht verlieren.«
    Sie blickte ihm in die Augen, und er versuchte darin zu lesen. War da noch mehr als Furcht? Vielleicht Unentschlossenheit? Er versuchte abermals nach ihrer Hand zu greifen, doch sie entzog sie ihm hastig, drehte sich um und schlüpfte hinter dem Vorhang hervor, ehe er sie zurückzuhalten konnte.
    Die Sorge um sie bohrte sich wie ein Splitter in sein Herz. Was tut sie mit mir?, durchzuckte es ihn. Dabei wusste er es längst.
    Fluchend kroch er hinter ihr ins Freie. Kein Mensch war zu sehen. Auch nicht der Traumdeuter.
    Etwas bewegte sich draußen vor der Tür. Ein Windstoß trieb ein Stück Stoff herein. Faun hob es auf. Es war ein Leinenfetzen mit blutigen Rändern. Angewidert ließ er ihn wieder fallen.
    »Wir müssen hier weg«, sagte Tiessa. »In der Burg sitzen wir in der Falle.«
    »Sie sind nur zu viert. Vielleicht sogar nur noch zu dritt. Und wie viele Männer waren in der Halle? Fünfzig? Sechzig?«
    »In der Halle«, sagte sie betont. »Ganz genau.«
    »Auf den Zinnen waren auch –«
    Sie schüttelte den Kopf, und Faun verstummte. Tiessa beugte sich weiter nach vorn, und in dem Moment kam es ihm so vor, als ob sie bewusst versuchte, den Abstand zwischen ihnen zu vergrößern. Dabei fand er ihre Nähe viel verwirrender als während des gedrängten Beieinanderkauerns vorhin.
    »Ich kenne diese Männer«, sagte sie. »Ich weiß, wie hervorragend sie ausgebildet sind. Und sie haben einen guten Grund ihr Bestes zu geben.«
    Er sah sie an, wartete auf weitere Erklärungen.
    »Sie werden alles verlieren, wenn sie mich nicht zurückbringen«, sagte sie hastig. »Ihre Ehre, ihre Titel, womöglich ihr Leben.«
    Faun dachte an die Puppe in ihrem Bündel, an das Dokument mit den Namen und Siegeln. Und doch wollten diese Männer auch Tiessa, nicht allein das Schriftstück. Wer war sie nur? Was war sie?
    »Komm jetzt«, sagte sie, hielt noch einmal unterhalb des Türrahmens an und schlich dann ins Freie. Widerstrebend folgte er ihr – und prallte fast gegen sie, als sie über etwas stolperte, das nur wenige Schritte vor der Tür des Schuppens lag. Ein Körper.
    »Ist er das? Der Traumdeuter?«
    Tiessa brauchte nicht zu antworten, denn nun sah er selbst, wer dort lag. Veit, der Mann, der sie zur Burg gebracht hatte. Sein Wams war am Rücken von mehreren Messerstichen zerfetzt worden. Das Stück Leinen stammte von ihm. Genau wie das Blut. Hier gab es noch viel mehr davon. Sein Mörder hatte zur Sicherheit die Halsschlagader durchtrennt.
    Faun blickte nach hinten, über das Dach des Schuppens hinweg zum Wehrgang. Veit war von dort oben hinuntergestürzt, die Schräge hinabgerutscht und hier aufgeschlagen.
    Niemand sonst war auf den Zinnen zu sehen. Kein einziger Wächter. Aber an

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